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19.07.19 / »Herold der 68er« / Vor 40 Jahren starb mit Herbert Marcuse ein wesentlicher Vordenker und Unterstützer der Studentenunruhen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-19 vom 19. Juli 2019

»Herold der 68er«
Vor 40 Jahren starb mit Herbert Marcuse ein wesentlicher Vordenker und Unterstützer der Studentenunruhen
Erik Lommatzsch

Von allen akademischen Stichwortgebern, die mit dem „Symboljahr“ 1968 und den entsprechenden Protestvorgängen verbunden werden, war er der lauteste und sicher auch der von seinen Anhängern am meisten umjubelte. Herbert Marcuse wusste seinen studentischen Verehrern zu erklären, warum man sich gegen eine von ihm ausgemachte „repressive Toleranz“ auch ruhig mal mit Intoleranz zur Wehr setzen solle.

Die Familie des am 19. Juli 1898 in Berlin geborenen Textilfabrikantensohnes zählte zum assimilierten jüdischen Großbürgertum. Nach dem Notabitur wurde er eingezogen. Am Ende des Ersten Weltkrieges gehörte er dem Soldatenrat in Berlin-Reinickendorf an, bereits 1917 war er SPD-Mitglied geworden. Wohl auf Eigenangaben beruhen die Aussagen, dass er den Soldatenrat wieder verlassen habe, nachdem auch Offiziere aufgenommen worden seien, und dass er der SPD den Rücken gekehrt habe, da er sie für die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919 mitverantwortlich gemacht habe. 

Dies würde auf sehr frühe politische Konsequenz hindeuten. Nach dem Studium der Philosophie, Germanistik und Nationalökonomie in Berlin und Freiburg wurde er 1922 mit der Arbeit „Der deutsche Künstlerroman“ promoviert. Nach einigen Jahren als Antiquar in Berlin ging er nach Freiburg und zählte zum engeren Kreis um den Philosophen Martin Heidegger. Mit seinen dort angefertigten Arbeiten gehört Marcuse zu denjenigen, denen es, nach den Worten des Soziologen Hauke Brunkhorst, gelang, „den Marxismus von seiner metaphysischen Geschichtsauffassung zu befreien“. Marcuses 1932 publizierte Schrift „Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit“ hatte ursprünglich seine Habilitationsschrift werden sollen, aber Differenzen mit Heidegger hatten zur Folge, dass keine akademische Weiterqualifikation an der Universität Freiburg zustande kam. Er wurde Mitarbeiter des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“, das zunächst nach Genf, 1934 nach New York verlegt wurde. Das Institut stand unter der Leitung von Max Horkheimer. 

Dort entstanden, nicht zuletzt durch Marcuse, maßgebliche Arbeiten zur „Kritischen Theorie“, die sich der Untersuchung der Bedingungen der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft verschrieben hat und deren „Unterdrückungsmechanismen“ aufzudecken bestrebt ist. Nicht von allen Vertretern der „Kritischen Theorie“ wurde Marcuse ein gutes Zeugnis ausgestellt. So schrieb etwa Theodor W. Adorno 1935 an Horkheimer, Marcuse sei ein nur „durch Judentum verhinderter Faszist“.

1940 erhielt Marcuse die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Mit anderen deutschen Emigranten arbeitete er ab 1942 beim „Office of Strategic Services“ (OSS), dem Nachrichtendienst des US-Kriegsministeriums. Aufgabe war die Analyse der Lage in Deutschland. Kurzzeitig kehrte er als US-amerikanischer Offizier hierher zurück. Danach arbeitete er für einige Jahre im Außenministerium in Washington. Es folgten Beschäftigungen an amerikanischen Universitäten, 1954 eine Professur an der Brandeis University in Waltham und 1965 schließlich ein Lehrstuhl für Politikwissenschaft in San Diego. Vor allem von dort aus wirkte Marcuse, der oft nach Deutschland eingeladen wurde, auf die Studentenbewegung.

Marcuse ist um die „Befreiung“ der Gesellschaft bemüht – der westliche Mensch der Moderne lebt seiner Meinung nach in einer „komfortablen, reibungslosen, vernünftig demokratischen Unfreiheit“. Seine Vorstellungen hat er in mehreren Werken dargelegt, die zunächst in den USA erschienen. Allerdings nahmen sie auch bald Einfluss auf die deutschen Studenten, wenn auch sicher eher durch schlagwortartiges Aufgreifen als durch gründliche Lektüre. 

In „Triebstruktur und Gesellschaft“ von 1955 zeigt Marcuse, wie in einer „befreiten Gesellschaft“ das „Lustprinzip“ zum „Realitätsprinzip“ werden könne, ohne dabei die „Kultur“ zu zerstören. 1964 erschien „Der eindimensionale Mensch“, das Wissenschaftler zu den „politisch folgenreichsten Büchern der Soziologie“ zählen. Nach Marcuse wird im Kapitalismus Pluralität nur vorgespiegelt, ist aber gar nicht wirklich vorhanden: „Die herrschenden Formen sozialer Kontrolle sind technologisch in einem neuen Sinne … Sie erscheinen als Verkörperung der Vernunft … in solchem Maße, daß aller Widerspruch irrational erscheint und aller Widerstand unmöglich.“ Trotzdem ruft er zum Widerstand auf – durch Kritik, vor allem aber durch Verweigerung solle er erfolgen. 

Besonders deutlich äußerte sich Marcuse in seinem Essay „Repressive Toleranz“ von 1965: „Aber ich glaube, daß es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein ,Naturrecht‘ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetzlichen sich als unzulänglich herausgestellt haben. Gesetz und Ordnung sind überall und immer Gesetz und Ordnung derjenigen, welche die etablierte Hierarchie stützen; es ist unsinnig, an die absolute Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenüber zu appellieren, die unter ihr leiden und gegen sie kämpfen, nicht für persönlichen Vorteil und aus persönlicher Rache, sondern weil sie Menschen sein wollen.“ In solchen Worten erkannten sich die Studenten wieder. Marcuse war 1966 an der Universität in Frankfurt auf Einladung des „Sozialistischen Deutschen Studentenbundes“ (SDS) Hauptredner beim Kongress „Vietnam – Analyse eines Exempels“. Im Folgejahr sprach er unter großem Beifall in einer vierteiligen Vortragsreihe mit dem Titel „Das Ende der Utopie“. Dort diskutierte er auch mit Rudi Dutschke, der später formulierte, „die Bürokratie als Gewaltorganisation muss zerstört werden“. Der Politikwissenschaftler Richard Löwenthal, einst KPD-Mitglied, seit 1945 in der SPD, bezeichnete die vom SDS geführten Diskussionen als Versuch, das selbstständige Denken „ohne Grundkenntnisse“ erlernen zu wollen, und warf den Studenten „extreme Faktenfeindlichkeit“ vor.

Marcuse schreckte das nicht allzu sehr, er wurde zum „Herold der 68er“, so der Historiker Götz Aly, selbst seinerzeit an den Revolten beteiligt, in seinem kritischen Buch „Unser Kampf“. Aly schreibt, Marcuses „Lehre war eingängig formuliert und schrieb den Studenten eine gesellschaftliche Führungsrolle mit hohem Spaßfaktor zu“. Revolutionäres habe Marcuse von den inzwischen gutsituierten Industriearbeitern, die ihre Unterdrückung kaum noch durchschauten, nicht mehr erwartet. Als „Verbündete“ habe er, statt der Arbeiter im eigenen Land, die „Unterdrückten“ in der „Dritten Welt“ angesehen.

Erwähnt sei allerdings auch, dass Marcuse sich 1968, wiederum in Berlin, weigerte, den Studenten die von ihnen erfragten Ratschläge zur „revolutionären Praxis“ zu erteilen, was mit heftigem Unmut quittiert wurde. 

Herbert Marcuse, der ein wesentlicher ideologischer Vordenker der Studentenunruhen war und diese durch seine Präsenz auch unterstützt hatte, starb am 29. Juli 1979 während einer Deutschlandreise in Starnberg. Viel geändert hat sich bei ihm wohl nicht mehr, auf seinem Grabstein steht „weitermachen!“