18.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
19.07.19 / Schwieriger Entzug des Lutschbeutels / Warum der Schnuller auch Friedensstifter heißt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-19 vom 19. Juli 2019

Schwieriger Entzug des Lutschbeutels
Warum der Schnuller auch Friedensstifter heißt
Klaus J. Groth

Im August vor 70 Jahren stellten die Zahnmediziner Wilhelm Balters und der Kieferorthopäde Adolf Müller nach Studien des kindlichen Saugverhaltens an der mütterlichen Milchquelle einen Schnuller vor, der nach der Rundung der Brust geformt war. Sie nannten ihn NUK, für „natürlich und kiefergerecht“.

 „Hier hast du ihn! Nun sei hübsch still, / weil ich die Wäsche trocknen will. / Schon krabbelt Schnupp, der eine Hund, / ganz nah an Willi seinem Mund. / Er fasst mit Hast die süße Beute / Und eilt von dannen voller Freude. / Der Willi aber weinet sehr, / Denn er hat keinen Schnuller mehr.“

Viele junge Mütter wären froh, wenn ein Schnupp käme und ihrem Kind den Schnuller nähme. Kaum eines gibt den Nuckel freiwillig her. Er ist ein ständiger Begleiter in den ersten Lebensjahren, er tröstet, gibt Halt und Schutz in einer unbekannten, unverstandenen Welt. Das Bedürfnis zu saugen ist Babys angeboren. Ultraschallbilder zeigen Embryonen, die genüsslich am Daumen nuckeln. 

Dass Schnullern beruhigend wirkt, wussten Eltern schon in Urzeiten. Um 900 vor Christus datieren die kleinen Tierfiguren aus Knochen, Elfenbein oder Ton mit einer Öffnung, aus der Kinder Brei saugten. In Chroniken aus dem Mittelalter wird erwähnt, dass Mütter Saugsäckchen mit vorgekautem Getreide, Brot und Honig füllten. Besonders anhaltendes Gebrüll wurde mit einem Zusatz von Bier, Schnaps oder Mohnsamen gestoppt. Nicht von ungefähr heißt der Schnuller auf Englisch pacifier, Friedenstifter. Auf dem Altar der St.-Stephani-Kirche aus dem 15. Jahrhundert in Aschersleben hält das Jesulein ein Säckchen in der Hand. Die Abbildung eines Vogels, der daneben sitzt, deutet auf eine Getreidefüllung hin. 

Solche Lutschbeutel waren noch bis ins 19. Jahrhundert ein gängiges Beruhigungsmittel für Babys. Die vielen mundartlichen Bezeichnungen für den Nuckel beweisen seine wichtige Bedeutung zu Beginn der Menschwerdung: „Nunni“, „Duddu“, „Diddi“ auf alemannisch, auf schweizerisch „Nuggi“, „Duttel“, „Fopper“, „Luller“, „Zutzl“ und „Nosi“ in Österreich, in der Oberlausitz „Huttl“ oder „Hutti“, in Sachsen „Nubbl“, im Rheinland „Bubu“ und in Bayern „Duzl“ oder „Dizi“.

Um 1840 kam eine abwaschbare Alternative zum „Sauglumpen“ auf den Markt. Der Schnuller bestand aus hartem Kautschuk, dessen Reibung den Durchbruch der Milchzähne erleichtern sollte, aber oft auch den Kiefer beschädigte. Ein Ärztekongress beschäftigte sich 1904 in Breslau mit dem Für und Wider des Schnullers. Die Experten waren unterschiedlicher Meinung. Die einen lehnten den Sauger grundsätzlich ab, weil er den Gaumen deformiere, die anderen wollten „unter Umständen … die Verwendung eines modernen, sauberen Schnullers zulassen“.

Der hygienische, zahnfreundlich geformte „Beruhigungssauger“ der Doktoren Balters und Müller wird seit 1956 von der Firma Mapa in Zeven hergestellt, die bereits Erfahrung mit der Herstellung gewisser Gummiprodukte hatte. Mapa exportiert heute NUK-Schnuller und Kondome (Topmarke „Billy Boy“) in alle Welt.

Auch die weichen Schnuller aus dem Naturprodukt Latex oder aus Silikon sind nicht unumstritten. Der ständige Druck der Zunge gegen den Gaumen kann einen „offenen Biss“ verursachen, eine Lücke zwischen Ober- und Unterkiefer und Fehlstellungen der Zähne. Zu langes Schnullern sorgt zudem für eine schlechte Belüftung des Nasenraums. Chronische Atemwegserkrankungen können die Folge sein. Logopäden beobachten bei Spätlutschern Störungen in der Entwicklung der Sprache wie Lispeln und Zischen.

Spätestens ab dem dritten Lebensjahr, raten Ärzte, muss der Schnuller weg. Das Abgewöhnen kann so schwierig sein wie der Nikotinentzug bei Rauchern. Er wird zum Machtkampf zwischen Eltern und dem Nachwuchs, der sich mit dauerhafter Beschallung wehrt. Eine Flut von Bilderbüchern bietet Hilfe an: „Ich brauch’ doch keinen Schnuller mehr“, „Ben gibt seinen Schnuller auf“ und „Mach’s gut, Schnuller“. Sie wollen Kindern listig weismachen, dass der freiwillige Abschied vom „Zutzl“ eine Heldentat sei. Überdrehte Mütter („Moms“) berichten auf Youtube über ihre persönlichen Erfahrungen und geben zum Teil abstruse Tipps. Von Pädagogen befürwortet wird das Erscheinen der Schnullerfee. Das Nuckelkind „schenkt“ ihr seinen Schnuller und bekommt dafür einen Wunsch erfüllt. Das kann bei fortgeschrittenem Alter und hartnäckigem Widerstand auch schon mal ein Flachrechner oder ein Mobiltelefon sein. Aus Dänemark kommt die Idee des „Schnullerbaums“. Der Schnuller wird an einem Ast aufgehängt, für die kleinen Vögelchen. Pädagogisch sinnvoll soll auch sein, das Kind ein Loch buddeln zu lassen und den Schnuller darin zu versenken, vorausgesetzt natürlich, er besteht aus abbaubarem Material.

Beerdigt ist das Problem damit aber oft noch nicht. Schon Krabbelkinder wissen, dass man einen neuen Schnuller kaufen kann. Die Auswahl ist groß. Es gibt kreative Sauger aus dem „NUK Schnulleratelier“ in Pink oder Blau, bedruckt mit Comic-Figuren, Piraten, Bären, Katzen und mit dem Konterfei des Schnuller-Besitzers. 

Bei der Entwöhnung von der frühkindlichen Droge sollten Eltern sensibel vorgehen, raten Psychologen. Zu den Tabus gehören zum Beispiel das Entsorgen des Schnullers vor den Augen des Kindes im Mülleimer, scharfen Senf aufzustreichen oder ihn scheibchenweise zu verstümmeln, bis nur noch ein Fragment übrigbleibt. 

Solche rabiaten Methoden können die verletzlichen Seelen traumatisieren, was schlimmer sei als schiefe Zähne. Auch Drohungen wie die im Bilderbuch „Struwwelpeter“ des Arztes und Psychiaters Heinrich Hoffmann haben heute keinen Platz mehr in der Kindererziehung. Als der Daumenlutscher Konrad nicht von seiner üblen Angewohnheit lassen will, kommt der Schneider und scheidet ihm die Daumen ab. 

Und wie ist es dem Schnulli-Willi in der Bildergeschichte von Wilhelm Busch ergangen? Nach etlichen Aufregungen und drohendem Totalverlust hat die Großmutter den Schnuller vor dem Hundemaul gerettet.

„Sie trägt zu einem warmen Ort Den Willi und den Schnuller fort. / Hier liegt und schwelgt er zum Beschluss / In ungestörtem Hochgenuss.“