Obwohl noch nicht alle Direktmandate der ukrainischen Parlamentswahl vom vergangenen Wochenende ausgezählt waren, stand fest, dass Wladimir Selenskij mit seiner Partei „Diener des Volkes“ auch diese Wahl für sich entscheiden konnte. Den ukrainischen Präsidenten erwarten schwierige Aufgaben.
Bei der vorgezogenen Parlamentswahl am 21. Juli erzielte die Partei „Diener des Volkes“ des neugewählten Präsidenten Wladimir Selenskij, die bislang noch nicht im Parlament vertreten war, einen fulminanten Sieg. Sie wurde mit 44 Prozent der Stimmen stärkste Partei. Auf Anhieb schaffte es auch Polit-Neuling Wsjatoslaw Wakar-tschuk mit seiner Partei „Stimme“ mit 6,5 Prozent in die Oberste Rada, das ukrainische Parlament. Ein ehemaliger Komiker und ein Rock-sänger machen den alten Hasen in Kiew den Garaus.
Neben dem guten Abschneiden der Jungen sorgte auch die zweitplatzierte Partei für Überraschung. Die „Oppositionsplattform – Für das Leben“ des russlandfreundlichen Politikers Jurij Bojko erreichte 12,84 Prozent der Stimmen. Dahinter erst folgten mit 8,9 Prozent die neue Partei von Ex-Präsident Petro Poroschenko „Europäische Solidarität“ und Julia Timo-schenkos „Vaterlandspartei“ mit 7,6 Prozent. Die niedrige Wahlbeteiligung von unter 50 Prozent spielte dem 41-jährigen Präsidenten in die Hände. Wobei erstaunlicherweise weniger Wahlberechtigte im pro-europäischen Westen zur Urne schritten als im russlandfreundlichen Südosten des Landes.
Die Programme der Parteien klangen ähnlich nichtssagend. Es schien, als orientierten sie sich an soziologischen Umfragen, denen zufolge 62 Prozent der Befragten den militärischen Konflikt im Osten des Landes als wichtigstes Problem sahen, gefolgt von niedrigen Löhnen, Preiserhöhungen für Lebensmittel und die hohe Inflationsrate. Erst danach nannten sie Korruption und die Sorge um den Arbeitsplatz.
Mit dem Einzug in die Rada steht Selenskij nun, außer seiner politischen Unerfahrenheit, nichts mehr im Wege, um eine eigene Machtbasis zu schaffen. Die bisherigen Abgeordneten hatten die Umsetzung seiner geplanten Reformen bislang behindert. Und noch zeichnet sich nicht ab, wie Selenskij seine Pläne umsetzen will, wie zum Beispiel den, seine politischen Gegner kaltzustellen, indem ihnen per Gesetz verboten werden soll, innerhalb der nächsten zehn Jahre ein Staatsamt auszuüben. Schließlich hat das Volk sowohl Oppositionelle wie auch die neue Partei Poroschenkos gewählt.
Für den Fall, dass nach Auszählung aller Stimmen seine Partei doch nicht die absolute Mehrheit erlangen sollte, hatte Selenskij schon einen Monat vor der Wahl Gespräche mit Wakartschuk geführt. Der Rockstar verfolgt jedoch eine härtere Gangart gegenüber den Oligarchen und Russland als Selenskij, dem unterstellt wird, Präsident von Gnaden des ihn protegierenden Oligarchen Igor Kolomojskij zu sein.
Der noch unerfahrene Präsident dürfte es auch schwer haben mit der russlandfreundlichen Oppositionspartei, als deren Kopf der Oligarch und Medienmogul Viktor Medwedtschuk gilt. Der 64-Jährige wurde Ende der 90er Jahre mit Öl- und Gasgeschäften reich, er war Leiter der Präsidialverwaltung unter Leonid Kutschma. Viele ältere Wähler sehen ihn als Garant dafür, die schlechten Beziehungen zu Russland zu verbessern und den Krieg zu beenden. Dabei dürfte ihm seine Freundschaft mit Wladimir Putin nützlich sein. Putin ist der Pate seiner jüngsten Tochter. Bojkos Oppositionsplattform verspricht ein Ende der wirtschaftlichen Blockade des Donbass und die Gewährung eines autonomen Status für die Region. Sie will den Kurs der Ukraine in die NATO stoppen, Sanktionen gegen Russland beenden und den Handel wieder aufnehmen. Auch das als diskriminierend empfundene Sprachgesetz will sie ändern.
Selenskijs Vorgänger Poroschenko hält am Westkurs der Ukraine fest. Er wird jeden Schritt seines Kontrahenten mit Argusaugen überwachen und jeden Fehler des Polit-Neulings für sich nutzen.
Selenskij wird unter äußerst schwierigen Bedingungen liefern müssen. Auch er versprach, den Krieg zu beenden, und die Republiken Donezk und Lugansk zurückzugewinnen, hat aber offenbar noch keinen Plan, wie er das anstellen will. Zunächst wird sich der Präsident mit der Zusammensetzung seines Kabinetts beschäftigen müssen. Zwar hat er sein Versprechen gehalten, politisch Unbelastete ins Parlament zu holen – unter den 192 Kandidaten waren neben Geschäftsleuten IT-Fachkräfte, Sportler, TV-Journalisten, persönliche Freunde und ehemalige politische Berater. Wegen letzterer steht Selenskij in der Kritik. Parlamentschef soll sein Berater Dmitrij Rasu-mow werden, der seinen Wahlkampf organisiert hatte. Der 36-Jährige war von 2006 bis 2010 Mitglied in der „Partei der Regionen“ des damaligen Staatschefs Viktor Janukowitsch. Gemäß seinen eigenen Vorgaben dürfte der aber gar nicht ins Parlament einziehen.
Erstes erfolgreiches Handeln des neuen Präsidenten deutete sich schon vor der Wahl an: Selenskij hat es geschafft, den ihm gegen-über reservierten Putin ans Telefon zu bekommen und ihm Zugeständnisse bezüglich eines Gefangenenaustauschs und einer Wiederaufnahme der Minsker Gespräche abzuringen, wobei Putin in der Frage der Separatisten-Republiken hart bleibt. Russland fordert die Dialogbereitschaft Kiews mit den Rebellen sowie eine Autonomie der Regionen wie im Minsker Abkommen vorgesehen.
Selenskij wird innen- als auch außenpolitisch unter Druck geraten. Innenpolitisch wird er sich mit fragwürdigen Entscheidungen seines Vorgängers bezüglich des Sprachengesetzes auseinandersetzen müssen. Ebenso dürfte die Verfolgung alles Russischen der Demokratieentwicklung im Wege stehen. Zumal in einem Land, in dem ein Großteil der Bevölkerung russischsprachig ist und eine russlandfreundliche Partei eine starke Opposition bildet. Außenpolitisch läuft Selenskij Gefahr, als Bauernopfer der geopolitischen Interessen des Westens und Russlands aufgerieben zu werden. Sperrt sich die Ukraine gegen die Erfüllung der Minsker Vereinbarung, könnte die EU bald das Interesse an ihr verlieren und den Geldhahn zudrehen.
Die Rückkehr Russlands in den Europarat und der diesjährige Petersburger Dialog deuten eine Trendwende an. Viele EU-Länder haben es satt, unter den Russlandsanktionen leiden zu müssen. Sie fordern bessere Beziehungen mit Russland.