Viele deutsche Firmen setzen auf billige Arbeitskräfte aus Südost-europa. Während die wirtschaftsstarken EU-Länder davon profitieren, hat es für die armen EU-Staaten fatale Folgen.
Der Appell liest sich dramatisch. „Wir sind eine im Verschwinden begriffene Nation“, schreibt Marian Hanganu, Chef der rumänischen Personalvermittlungsfirma Colorful, auf seiner Internetseite über die Massenauswanderung aus einem der ärmsten EU-Länder. „Das Resultat ist, dass viele multinationale Unternehmen entschieden haben, nicht mehr in Rumänien zu investieren, weil es einfach kein Personal gibt.“
In Rumänien schrumpft vielerorts die Bevölkerung, weil die Jungen auf der Suche nach besserer Arbeit fortziehen. Die schi-cken zwar Geld nach Hause, aber das ist letztlich nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Unter den EU-Ländern verzeichnet Rumänen den größten Anstieg der Auswanderung seit 1990.
Einen zum vergangenen Jahreswechsel veröffentlichten Report der Weltbank zufolge arbeiten und leben etwa vier der insgesamt 19,6 Millionen Rumänien außerhalb ihres Heimatlandes. Unter den Auswanderern sind etwa
2,6 Millionen im erwerbsfähigen Alter, was fast einem Fünftel der arbeitenden Bevölkerung des Landes entspricht.
Ganz ähnlich sieht es im benachbarten Ausland aus. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs kämpft auch Bulgarien mit enormer Abwanderung. Das Land ist das wirtschaftliche Schlusslicht der EU, und die Bevölkerung schrumpft in keinem Land der Welt so schnell. Schätzungen zufolge sollen mehr als 1,2 Millionen Bulgaren im Ausland leben, die Zahl der Einheimischen ist kürzlich unter die Sieben-Millionen-Marke gefallen.
Es sind nicht nur ungelernte Arbeitskräfte, die ihre Heimat bereits verlassen haben. Auch hoch qualifizierte Kräfte, insbesondere Mediziner, sind ausgewandert. 2013 waren bereits mehr als 14000 rumänische Ärzte im Ausland tätig. Das entspricht einem Drittel der Gesamtzahl der Ärzte des Landes.
Ein ähnliches Bild bietet Serbien. Rund ein Fünftel der Einheimischen will das Land auf der Suche nach besserbezahlten Jobs und mehr Wohlstand verlassen, heißt es in einer neuen Studie. Die meisten dieser Menschen seien jung. Diejenigen, die das Land bereits verlassen haben, wollen nicht zurückkehren, zumindest nicht vor ihrer Pensionierung – wiederum vor allem wegen des höheren Lebensstandards im Ausland, heißt es in der Umfrage „Why are People leaving Serbia?“ (Warum verlassen die Menschen Serbien?).
Anfang Juli ergab eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dass die Bundesrepublik fast so viele Zuwanderer anzieht wie die Vereinigten Staaten. Im Jahr 2016 blieben mehr als eine Million Menschen in Deutschland, im Jahr 2017 waren es nach vorläufigen Zahlen wieder fast 900000 Menschen. Der Studie zufolge zieht sich die Attraktivität von „Germany“ durch alle Berufsgruppen. „Deutschland wird als Arbeitsort für internationale Talente immer beliebter. Die wirtschaftliche Stärke und die guten Arbeitsbedingungen sind weltweit bekannt“, heißt es.
Vor Ort sind die Aussichten dagegen trübe. Griechenland hat mehrere Hunderttausend seiner Einwohner verloren, und selbst Ungarn, das wirtschaftliche Musterland der neuen EU-Länder, hat mit einer massiven Abwanderung zu kämpfen. Im baltischen Lettland leben zum Beispiel fast 27 Prozent weniger Menschen als zu Beginn der Unabhängigkeit 1991.
Die Auswirkungen sind fatal. Viele serbische und bulgarische Dörfer müssen schon von mobilen Teams des Roten Kreuzes versorgt werden, weil dort nur noch alte Menschen leben. Sie brauchen nicht nur oft Pflege, sondern haben auch keine Möglichkeit mehr zum Einkaufen.
Die Jungen, die dies übernehmen könnten, sind lange weg. Es fehlt an Krankenhäusern, weil es kaum noch Ärzte gibt, es fehlt an Schulen, weil die Lehrer ausgewandert sind, und es fehlt an Kindergärtnern, weil die Erzieher ihr Glück lieber im reichen Westen suchen.
Dramatisch zurückgegangen ist auch die Zahl der Bauarbeiter. In den Boom-Regionen des europäischen Ostens bleiben daher Bauvorhaben monatelang liegen, weil es keine Arbeiter gibt. Experten schlagen Alarm: „Ein Europa, das sich über Arbeitskräfte aus dem Osten freut, wird sich früher oder später auch um die Zurückgebliebenen sorgen müssen. Beginnen könnte es damit, den Kohäsionsfonds der EU im nächsten Finanzplan zu stärken statt zu kürzen. Und seine Mittel nicht mehr pro Kopf, sondern nach Region zu verteilen“, erklärte beispielsweise der renommierte Osteuropa-Journalist Norbert Mappes-Niediek. Mit dem Fonds werden infrastrukturelle Projekte innerhalb der EU finanziert.
In vielen Regionen des Südostens würden „Scouts“ auf die Suche nach jungen Arbeitskräften gehen. Und die Politik mischt eif-rig mit. So tourte Gesundheitsminister Jens Spahn kürzlich durch den Kosovo, um für den Pflegestandort Deutschland zu werben.
Aus Sicht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) profitiert Deutschland nämlich von den Zuwanderern aus Südosteuropa. „Sie sind meist jung, die Beschäftigungsquote ist annähernd vergleichbar mit der der Deutschen“, sagt IAB-Migrationsforscher Herbert Brücker.
In diversen Branchen wie Bau, Pflege und Gastronomie würde es ohne diese Kräfte eng, da sich kaum deutsche Bewerber fänden. „Da findet kein Verdrängungswettbewerb statt“, so Brücker. In dem Abwanderungsländern allerdings auch nicht.