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02.08.19 / Kampf mit den eigenen Dämonen / Vor 200 Jahren wurde Herman Melville geboren – Sein »Moby Dick« wurde zum US-amerikanischen Klassiker

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-19 vom 02. August 2019

Kampf mit den eigenen Dämonen
Vor 200 Jahren wurde Herman Melville geboren – Sein »Moby Dick« wurde zum US-amerikanischen Klassiker
Harald Tews

Anfang der 1850er Jahre erlebte die US-amerikanische Literatur eine Sternstunde. In kurzen Abständen er­schienen drei Romane, welche die literarische Identität der Nation prägten. 1850: „Der scharlachrote Buchstabe“, 1851: „Moby Dick“, 1852: „Onkel Toms Hütte“. Nimmt man noch Thoreaus einflussreichen Aussteigeressay „Walden oder Leben in den Wäldern“ von 1854 und Walt Whitmans epochalen Lyrikband „Grashalme“ von 1855 (siehe PAZ vom 31. Mai) hinzu, hält man die US-Literatur in nuce in Händen.

Auffallend ist, dass alle Autoren nicht über das riesige Land verteilt waren, sondern aus einem re­latativ kleinen Ostküstenbereich um Boston herum stammen, von wo aus die Pilgerväter das Land besiedelt hatten. Die räumliche Nähe befruchtete offenbar das ge­genseitige literarische Schaffen.

Herman Melville wurde zwar am 1. August 1819 in New York geboren, einer seiner Großväter hatte allerdings als Indianer verkleidet an der Boston Tea Party teilgenommen. Und als er seinen unsterblichen Roman „Moby Dick“ schrieb, wohnte Melville in un­mittelbarer Nachbarschaft Nathaniels Hawthornes, des Autors des Ehebrecherromans „Der scharlachrote Buchstabe“, unweit von Mount Greylock, der höchsten Erhebung von Massachusetts. 

Hawthorne erinnerte sich, wie der Freund „die gigantische Konzeption seines ,weißen Wals‘ formte, während der riesige Schatten des Greylocks über ihm dräute“. Einen Berg von einem Wal hatte Melville vor Augen, als er sein Meisterwerk schrieb. Einen gigantischen Leviathan, der sich aus dem Wasser drückt und Segelschiffe zum Kentern bringt.

Als Seemann auf einem Walfänger und einem Kriegsschiff hatte er so manches erlebt. Aber rechtfertigte das, um Wale zu verteufeln? Sein „Moby Dick“ fasziniert noch heute die Leser, weil der Roman etwas Faustisches hat. Er spiegelt die Dämonen, die in Melville selbst schlummerten und die ihm an­fangs selbst nicht bewusst waren. Denn seine ersten erfolgreichen Romane „Typee“ und „Omoo“ wa­ren nur schnell hingekritzelte Geschichten aus seiner Zeit in der Südsee. Mit „Mardi“ näherte er sich allegorisch der Walgeschichte an, es blieb aber doch nur ein Abenteuerbuch wie die folgenden, ebenfalls nur mäßig erfolg­reichen Werke über Seereisen, „Redburn“ und „Weißjacke“.

Um ein Haar wäre auch aus „Moby Dick“ wenig mehr als eine banale Abenteuergeschichte ge­worden. Er hatte bereits eine erste Fassung des Buches fertig, als Melville unter dem Einfluss seines puritanischen Nachbarn Hawthorne diese komplett verwarf und alles noch einmal ganz neu schrieb. Biblische Mythologie sowie Dramaturgie und Dialoge nach Shakespeares Vorbild, den er kurz zuvor gelesen hatte, sollten dem Roman Würze verleihen. 

So heißt der Erzähler, der als einziger das Rachedrama überleben wird, Ishmael wie der erstgeborene Sohn Abrahams. Und der Kapitän, dem der weiße Wal Moby Dick auf einer früheren Fahrt ein Bein abgebissen hat und der seitdem mit einer Prothese aus Walzahn herumhinkt, ist nach Ahab benannt, einem in der Bibel erwähnten israelitischen König.

Die Jagd auf Moby Dick entwickelt sich bei Kapitän Ahab zu einer verhängnisvollen Obsession. „Auf des Wales weißen Buckel türmte Ahab die Summe all der umfassenden Wut und des Hasses, den seine ganze Rasse seit Adam je gefühlt“, heißt es im Buch. Dann sagt er: „Ich würde auch nach der Sonne schlagen, wenn sie mich beleidigte.“

Melville war ähnlich neurotisch veranlagt. Er unterlag einem monomanischen Schreibzwang. Nach dem Frühstück, so schrieb er in einem Brief, „gehe ich in mein Arbeitszimmer & zünde mein Feuer an – breite meine Manuskriptseiten auf dem Tisch aus – mustere sie mit einem geschäftsmäßigen schiefen Blick & falle gierig über sie her“. Seine Frau und die vier Kinder hatten unterdessen seinem Diktat nach unbedingter Ruhe zu folgen.

Großer materieller Erfolg stellte damit nicht ein. Als „Moby Dick“ erstmals erschien, wurden gerade einmal 500 Exemplare davon verkauft. Es war ein Flop. Melville war ebenso geschäftsuntüchtig wie sein Vater, ein New Yorker Pleitier, und fast das ganze Leben finanziell abhängig von seinem Schwiegervater, einem Obersten Richter von Massachusetts.

Während Ahab an der Hybris scheitert, Menschenunmögliches zu erreichen, gab sich Melville der Realität geschlagen. Mit „Moby Dick“ hatte er alles auf eine Karte gesetzt. Nun war seine Energie verbraucht. Es folgten nur noch literarisch kurzatmige Werke, die nichts mehr mit Seefahrt zu tun hatten. In 

„Pierre oder die Doppeldeutigkeiten“ versuchte sich Melville am Thema Inzest, in „Bartleby der Schreiber“ über den beinahe kafkaesken Büroalltag und in „Israel Potter“ über einen vergessenen Revolutionshelden.

Mit „Billy Budd“ fand er spät noch einmal aufs Meer und damit fast zur gewohnten Stärke zurück. Die kurze Erzählung wurde vor ge­nau 100 Jahren in seinem Nachlass entdeckt – versteckt in einem Brotkorb. Geschrieben hat er sie, als er zwecks Broterwerbs von 1866 an fast 20 Jahre lang stellvertretender Zollinspektor im Hafen von New York war. Der Schriftsteller Melville, den die „New York Times“ nach seinem Tod 1891 in einem Nachruf fälschlich „Henry“ Melville nannte, war da längst vergessen. 

Man erinnerte sich seiner erst wieder, als „Billy Budd“ erschien. Zum Klassiker wurde er durch eine  darauf folgende, illustrierte „Moby-Dick“-Neuausgabe sowie durch etliche Verfilmungen. Die erste gab es bereits 1926 mit „The Sea Beast“, die bekannteste 1956 mit Gregory Peck als Ahab.





Bücher zum Jubiläum

Von Melvilles Romanen liegen neu vor: Typee, Mare Verlag 2019, 448 Seiten, 38 Euro; Mardi und eine Reise dorthin, Manesse 2019, 832 Seiten, 45 Euro; Billy Budd, Diogenes 2019, 96 Seiten, 10 Euro. 

Ferner: Thomas David, Herman Melville (Leben in Bildern), Deutscher Kunstverlag 2019, 96 Seiten, 22 Euro; Arno Heller, Herman Melville. Biographie, Lambert Schneider 2017, 320 Seiten, 29,95 Euro.