27.04.2024

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02.08.19 / Neue Einsichten in die Nachkriegszeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-19 vom 02. August 2019

Neue Einsichten in die Nachkriegszeit
Dirk Klose

Homo homini lupus“ – der Mensch ist des Menschen Wolf. Das heißt nach landläufiger Meinung, der Mensch denkt rücksichtslos nur an sich. „Wolfszeit“ nennt der Berliner Publizist Harald Jähner sein Buch über das besiegte Deutschland nach 1945, als viele Menschen tatsächlich zu „Wölfen“ wurden. Aber dann relativiert er auch wieder: Das Elend sei nicht zu verstehen ohne die Lust, die es hervorbringt: „Dem Tod entronnen zu sein, stieß die einen in Apathie, die anderen in eine nie gekannte, eruptive Daseinsfreude.“ Diese Doppeldeutigkeit der damaligen Zeit liegt der Darstellung zugrunde, und so bringt dieses Buch dadurch, dass es nicht einseitig bei Not und Elend stehen bleibt, viele neue Einsichten, auch wenn letztlich doch die extremen Verhältnisse dieser „Niemandszeit“ dominieren. 

Diese „Wolfszeit“ war ein nie zuvor gekannter Zivilisationsbruch. Das besiegte Deutschland war nicht nur äußerlich zerstört 

(45 Prozent aller Wohnungen!), auch die Menschen – ausgebombt, vertrieben oder auf der Flucht – waren es. Jähner bringt  alles in einem großen Panorama zusammen: Die zerstörten Städte, die Millionen Vertriebenen, die ebenso millionenfach vergewaltigten Frauen, den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, die heimkehrenden Kriegsgefangenen, die Schwarzmarkthändler, die nie ausreichenden Lebensmittelkarten, das Leben in Trümmern und den brutalen Überlebenskampf. 

Die Sieger befürchteten Hungerrevolten und soziale Unruhen, aber nichts dergleichen geschah, die Deutschen waren einfach zu ausgelaugt und ausgepowert, einfach nur auf das schiere Überleben konzentriert. Zum Überleben trug dann paradoxerweise eine oft geradezu extreme, mitunter schon zügellose Lebensfreude, ja Lebensgier bei: Eine Tanzwut nach amerikanischen Rhythmen, erste Karnevalsumzüge schon wieder 1946 und eine laxere Sexualmoral. 

Ab der zweiten Hälfte des Buches geht es wieder bergauf; mit der Währungsreform im Juni 1948 begann das vielzitierte Wirtschaftswunder, wobei der Autor plausibel festhält, dass das eigentliche „Wunder“ die Integration der Millionen entwurzelter Menschen war, auch die „notwendige wie unvermeidliche“ Integration alter NS-Größen. Beispielhaft bringt er den Aufstieg des VW-Werks in Wolfsburg und Beate Uhses „Versandhaus für Ehehygiene“ („bringt Sonnenschein in Ihre Nächte“), mentalitätsmäßig den kessen Ton neuer Frauezeitschriften. Zwei Kapitel sind der Re-Education und den wie ein Sturzbach hereinbrechenden neuen Kulturströmungen, insbesondere der abstrakten Malerei und symbolhaft dem später vielgeschmähten Nierentisch gewidmet.

Das eigene, in der Tat ja nicht wegzuleugnende Leid wurde, so kritisiert Jähner, derart intensiv thematisiert, dass überhaupt kein Empfinden mehr für das Leid der Opfer des NS-Regimes, insbesondere für die Ermordung der europäischen Juden, dagewesen sei. Die Verdrängung funktionierte perfekt, man fühlte sich selbst als Hitlers Opfer. Es war, so sagt es der Autor, eine Verdrängungsleistung, „von der die Nachkommen aufs Äußerste profitierten“. 

Lange hat es kein so abwägendes und so treffend urteilendes Buch über die Nachkriegszeit gegeben. Der lockere, aber nie lässige Stil des ehemaligen Redakteurs macht es trotz des bedrückenden Themas fast zu einem Lesevergnügen. Allenfalls ließe sich anmerken, dass mit dem im Untertitel genannten „Deutschland“ bis auf das Kulturkapitel fast nur die drei Westzonen gemeint sind, die Sowjetische Besatzungszone mit ihrer besonderen Entwicklung (Bodenreform, Enteignungen) bleibt ausgespart; freilich waren dort Hunger und Not genauso groß. Jähner hatte im Frühjahr in Leipzig gegen exzellente Konkurrenz den diesjährigen Sachbuchpreis der Buchmesse erhalten. 

Harald Jähner: „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955“, Rowohlt Verlag, Berlin 2019, gebunden, 480 Seiten, 26 Euro