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09.08.19 / Ein Picknick veränderte die Welt / Ungarns geöffnete Grenze lud zur Massenflucht aus der DDR ein

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-19 vom 09. August 2019

Ein Picknick veränderte die Welt
Ungarns geöffnete Grenze lud zur Massenflucht aus der DDR ein
Klaus J. Groth

Im Herbst 1989 lösten Massenfluchten aus der DDR nachfolgende Massendemonstrationen aus. Beides setzte erste Zeichen vom baldigen Ende des kommunistischen Regimes. 

Ausgelöst wurden die Massenfluchten durch ein Paneuropäisches Picknick am 19. August 1989, zu dem die Paneuropäische Union per Handzettel eingeladen hatte. Es fand nahe der Stadt Sopron an der österreichisch-ungarischen Grenze statt. Mit der Öffnung eines provisorischen Grenzübergangs wurde an jenem Tag ein Tor aufgestoßen, hinter dem sich die Welt veränderte.

Schirmherr dieser Friedensdemonstration war der Europaabgeordnete Otto von Habsburg, ältester Sohn des letzten Kaisers von Österreich, Karl I. Gemeinsam mit dem oppositionellen Ungarischen Demokratischen Forum war vereinbart worden, die Grenze zwischen St. Margarethen im Burgenland und Sopron für drei Stunden zu öffnen. Der ungarische Staatsminister Imre Pozsgay war der zweite Schirmherr. Die Veranstalter wollten testen, wie Michail Gorbatschow reagieren würde. 

Schon Ende 1988 hatte der ungarische Reformpolitiker festgestellt, die Grenzanlagen seien „historisch, technisch und politisch überholt“. Im März 1989 wurde Gorbatschow informiert, Ungarn beabsichtige, den Zaun abzubauen. 

Der Kreml-Chef versprach, sich nicht einzumischen. Er stand zu seinem Wort, als im Mai 1989 ungarische Grenzsoldaten mit der Demontage begannen. In Ost-Berlin glaubte man, diese vorsichtige Öffnung des Eisernen Vorhangs sei lediglich eine kosmetische Operation. Ein Irrtum mit schwerwiegenden Folgen. Man war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, hatte andere Probleme: Bürgerrechtler riefen zum Boykott der Kommunalwahl auf, erste Demonstranten gingen auf die Straße.

An vier Stellen wurde der Zaun auf einer Breite von einem Kilometer an der Grenze zu Österreich durchschnitten. Die Grenze selbst lag noch zweieinhalb Kilometer hinter beziehungsweise vor dem Zaun. Die Pläne zum Abbau waren nicht neu, sie gab es seit 1987. Der 270 Kilometer lange Zaun war verrottet, für neue Anlagen fehlte das Geld. Die 2000 jährlich registrierten Fluchtversuche aus Ungarn unternahmen Menschen aus der DDR.

Moskau schwieg auch, als im Juni 1989 wenige Kilometer entfernt der Signalzaun vom österreichischen Außenminister Alois Mock und dessen ungarischem Kollegen Gyula Horn symbolträchtig gemeinsam außer Betrieb gesetzt wurde.

Als nun zum Paneuropäischen Picknick eingeladen wurde, da verstanden Reisende aus der DDR das Zeichen genau. Sie nahmen die Einladung in Scharen an. Bis dahin hatte für Bewohner der DDR gegolten: Reisen in westliche Länder gab es nur in absoluten Ausnahmen, für Kader oder Künstler. Anderen standen nur die sozialistischen Bruderländer offen. Und die verhinderten eine Weiterreise in ein westliches Land mit allen Mitteln. Wer einen Fluchtversuch wagte und erwischt wurde, der wurde an die DDR ausgeliefert. Es folgte eine mehrjährige Haftstrafe wegen Republikflucht.

Das Picknick war ein Wagnis. Die ersten geladenen Besucher aus der DDR kamen etwas zu früh, das Tor war noch geschlossen und bewacht. Das hinderte die Jugendlichen nicht, sie rissen das Törchen auf und rannten hinüber nach Österreich. Das war nicht vorgesehen, der Übergang wurde wieder geschlossen. Die nächsten 150 Reisenden aus der DDR hielten sich an den Zeitplan, sie kamen um 15 Uhr. Wieder wurde das Tor aufgedrückt, die nächste Gruppe rannte in den Westen. Das wiederholte sich in drei Wellen. 661 Reisende aus der DDR nutzten die Gelegenheit zur Flucht. Es war die bis dahin größte Massenflucht seit dem Bau der Berliner Mauer. Die ungarischen Grenzsoldaten sahen zu, sie hatten keinen Befehl einzugreifen. Und weil man auf ungarischer Seite nichts unternahm, blieben auch die Grenzwachen auf der österreichischen Seite untätig. Lediglich ein ungarischer Offizier versuchte, den Weg zu versperren, gab aber sein hoffnungsloses Unterfangen angesichts der anstürmenden Massen bald auf. 

Alle Beteiligten gaben sich überrascht, als sei die Massenflucht nicht zu erwarten gewesen. Dabei hatten sich Tausende Menschen aus der DDR zum angeb-lichen Urlaub nach Ungarn aufgemacht. Sie warteten an anderen Orten, von einem Paneuropäischen Picknick erwarteten sie nichts. Die ungarische Staatssicherheit wusste schon seit Juli 1989 von den Plänen von Habsburgs. Der ungarische Inlandsgeheimdienst informierte am 31. Juli die in Ungarn tätige Gruppe der Stasi, aber unternommen wurde von keiner Seite etwas. Mit der Massenflucht von Sopron brachen die Dämme. Immer mehr Menschen aus der DDR machten sich auf, einen Fluchtweg über ein sozialistisches Bruderland zu finden. Und in der DDR gingen nun die Menschen in Massen auf die Straßen, um gegen Unterdrückung, fortlaufende Bespitzelung und trostlose Lebensverhältnisse zu protestieren. 

In Ungarn blieben nach der Picknicksflucht die fahrbaren Untersätze der Flüchtlinge zurück, auf die diese jahrelang gespart und gewartet hatten. Die Stasi sammelte sie ein, um das Volkseigentum zurück in die DDR zu bringen. Es war eine läppische Fußnote der beginnenden Auflösung des DDR-Regimes. Erich Honecker, Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, kommentierte das in einem Interview mit dem „Daily Mirror“ so: „Habsburg verteilte Flugblätter bis weit nach Polen hinein, auf denen die ostdeutschen Urlauber zu einem Picknick eingeladen wurden. Als sie dann zu dem Picknick kamen, gab man ihnen Geschenke, zu essen und Deutsche Mark, dann hat man sie überredet, in den Westen zu kommen.“

Das DDR-Regime wagte nicht, die Grenzen zu den Bruderländern vollständig abzuriegeln. Zu Zehntausenden machten sich Menschen der DDR nach Ungarn auf. Täglich gelang bis zu 100 die Flucht. Am 11. September 1989 öffnete Ungarn die Grenze vollständig. Innerhalb von drei Wochen flohen 25000 Menschen aus der DDR nach Österreich. In einem hilflosen letzten Akt verbot das DDR-Regime Reisen nach Ungarn. Der gestürzte Honecker bemerkte später, dieser Habsburger habe den Sargnagel in seinen Sarg geschlagen.