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09.08.19 / Einblicke in den turbulenten Alltag an deutschen Problemschulen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-19 vom 09. August 2019

Einblicke in den turbulenten Alltag an deutschen Problemschulen
Dagmar Jestzremski

Die Folgen der gescheiterten Integrationspolitik bekommen in Deutschland verstärkt Lehrer in den Grund- und Hauptschulen zu spüren. Zwei Betroffene packen in ihren Büchern aus.

Im vergangenen Jahr gewährte die Kasseler Lehrerin Julia Wöllenstein für eine ZDF-Reportage ganz Deutschland Einblicke in ihren  turbulenten Schulalltag an einer Gesamtschule mit überwiegend multikultureller Schülerschaft. Nun hat sie ein Buch über ihre Erfahrung als Lehrerin an einer Brennpunktschule vorgelegt. Es trägt den Titel „Von Kartoffeln und Kanaken. Warum Integration im Klassenzimmer scheitert“. 

Man darf es getrost als beispielgebend für die Situation an Schulen mit einem sehr hohen Anteil von Kindern mit Immigrationshintergrund bezeichnen. Die 43-jährige Autorin ist alleinerziehende Mutter und war als Kinder- und Jugendbetreuerin tätig, bevor sie nach einem Zweitstudium Lehrerin für evangelische Religion, Englisch und Darstellendes Spiel wurde. Zuletzt unterrichtete sie Hauptschüler einer 9. Klasse an ihrer Schule mit integrierter Förderstufe (Aufteilung der Schüler ab der 7. Klasse in die drei Schulzweige). Nur drei Schüler hatten keinen Immigrationshintergrund. Die Schimpfworte „Kartoffel“ und „Kanake“ sind bezeichnend für einen Teil der Konflikte, mit denen Wöllenstein oft konfrontiert ist. 

Ausdrücklich betont sie, dass ihr Kritik an der Religion des Islam fernliege. In den stark heterogenen Klassen entstünden Probleme jedoch oft aufgrund der kulturellen Parallelwelten patriarchalisch geprägter Familien, in denen ein Großteil der muslimischen Schüler sozialisiert wurde. Sie berichtet, dass sie mit ihren Schülern über Themen wie Land, Religion, Kultur und Ehre spricht, damit beispielsweise kein Mobbing „aus religiösen Gründen“ stattfindet. Einigen Schülern sei es neu, dass es in Deutschland keine Rechtfertigung für Gewaltausübung von Seiten männlicher Familienmitglieder gibt. Auch mit dem Tabuthema der weiblichen Genitalverstümmelung müssten wir uns in Deutschland auseinandersetzen, fordert die Verfasserin, da immer mehr Menschen aus Ländern in Afrika und Asien zu uns immigrieren, in denen diese traditionelle Praxis weit verbreitet ist. 

Bei ihrem pädagogischen Engagement stößt sie oft an ihre Grenzen, fühlt sich allein gelassen. Nicht nur, um die Herausforderungen für Lehrkräfte an Brennpunktschulen publik zu machen, habe sie sich für den Schritt in die Öffentlichkeit entschieden. Es werde für die Mehrheitsgesellschaft zunehmend zum Risiko, dass Kollegen und Behördenvertreter aus falsch verstandener Rücksicht auf den „kulturellen Hintergrund“ immer öfter wegschauen, wenn geltende Regeln verletzt werden. Ihre zentrale Botschaft lautet: Alle Kinder und Heranwachsenden sollen von den Errungenschaften unserer Demokratie profitieren, daher brauche es keine falsch verstandene Kultursensibilität, sondern klare Regeln im Miteinander und vor allem endlich wirksame Unterstützung durch die Politik.

Viele falsche Weichen würden durch unser Schulsystem gestellt, meint die Pädagogin. Sie plädiert für längeres gemeinsames Lernen. Eine frühe Trennung in unterschiedliche Leistungsgruppen führe Hauptschulklassen nachweislich in eine negative Abwärtsspirale. Um Kindern aus benachteiligten sozialen Schichten mehr Chancengleichheit und damit die von ihnen erhoffte spätere Teilhabe zu ermöglichen, sollte der städtische Wohnungsbau mit Auflagen für eine soziale Durchmischung verbunden sein. Möge dieses drastische und ehrliche Buch dazu beitragen, dass die Politik endlich angemessen auf die angehäuften Probleme an jeder dieser Schulen reagiert. 

Berlin-Neukölln, Duisburg-Marxloh und Frankfurt-Griesheim sind die bekanntesten von vielen Brennpunktvierteln in deutschen Großstädten. Neben einer hohen Arbeitslosenquote haben sie einen ständig steigenden Bevölkerungsanteil mit Immigrationshintergrund gemeinsam. Das bildet sich auch in der Berthold-Otto-Schule in  Griesheim ab, wo inzwischen fast alle Kinder einen Immigrationshintergrund haben. Viele leben in schlimmen sozialen Verhältnissen. 

An dieser von der Kommunalpolitik völlig vernachlässigten Grundschule war Ingrid König 30 Jahre als Lehrerin und Rektorin tätig. 2017 war sie Mitunterzeichnerin eines Brandbriefs an das hessische Kulturministerium und nahm 2018 an einem Treffen von 50 Schulleitern und Politikern im Kanzleramt teil. Das Treffen hatte Angela Merkel in einer Fernsehdiskussion mit König über das Thema „Brennpunktschulen“ angeregt. Mehrere Verlage interessierten sich daraufhin für ein Buch von König. Dieses liegt nun vor und trägt den Titel „Schule vor dem Kollaps. Eine Schulleiterin über Integration, die Schattenseiten der Migration und was getan werden muss“. Königs Bilanz ihres Berufslebens verweist auf das immense Integrationsproblem in unserem Land, das sich in bestimmten Schulen manifestiert hat. Es ist eigentlich kaum zu glauben, dass überall in Deutschland Tausende Lehrer so lange über die sie betreffende, belastende Entwicklung geschwiegen haben.

Zuletzt unterrichtete die Autorin in einer Klasse nur mit Kindern mit Migrationshintergrund. Sie versichert, dass es bei jeder Zuwanderergeneration neue Integrations- und Armutsprobleme gegeben habe. Nicht mehr zu verkraften sei jedoch der seit Jahren anhaltende Zuzug von Asylsuchern aus Afrika, Nahost und Afghanistan. Unterricht sei wegen der mangelhaften Sprachkenntnisse oft kaum noch möglich. Mit beispielhaften Geschichten unterlegt die Verfasserin ihre Beobachtung, dass die Lern- und Leistungsbereitschaft immer mehr gesunken seien und Werte wie Pünktlichkeit, Toleranz und Respekt den Kindern in der Schule erst begreiflich gemacht werden müssten. Die Schule könne all dies neben ihrer eigentlichen Aufgabe aber nicht leisten. Hingegen habe der Einfluss des radikalen Islam in den Familien stark zugenommen. Kinder, deren Eltern glauben, sie vor den Einflüssen des Landes schützen zu müssen, in dem sie leben, würden in einen Zwiespalt zwischen zwei Identitäten und Kulturen gerissen. Als zusätzliche Aufgabe habe die Politik den Lehrern überdies die schlecht vorbereitete Inklusion von Förderschulkindern aufgebürdet. König hat jedoch ihren Anspruch nie aufgegeben, allen Kindern Brücken zu bauen, um ihnen einen Weg für das bestmögliche Lernziel zu eröffnen.

Die engagierte Schulleiterin hat mit dazu beigetragen, dass das brisante Thema in der Politik offenbar angekommen ist. In Griesheim-Mitte begann im vergangenen Jahr der Stadtumbau zur Verbesserung der Lebensqualität im Viertel. Der 

Berthold-Otto-Schule wurde eine Sozialpädagogin zugeteilt und es soll zusätzliche Lehrerstunden geben. Landesweit hat die Große Koalition eine Bund-Länder-Initiative zur Förderung von Schulen in benachteiligten Vierteln gestartet. 

Julia Wöllenstein: „Von Kartoffeln und Kanaken. Warum Integration im Klassenzimmer scheitert“, mvg Verlag, München 2019, broschiert, 190 Seiten, 14,99 Euro

Ingrid König: „Schule vor dem Kollaps. Eine Schulleiterin über Integration, die Schattenseiten der Migration und was getan werden muss“, Penguin Verlag, München 2019, gebunden, 240 Seiten, 20 Euro