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23.08.19 / Steht eine »Putin-Dämmerung« bevor? / Vernetzt in der Breite – Der Aufstand der Mittelschicht in Russland bekommt eine neue Qualität

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-19 vom 23. August 2019

Steht eine »Putin-Dämmerung« bevor?
Vernetzt in der Breite – Der Aufstand der Mittelschicht in Russland bekommt eine neue Qualität
Manuela Rosenthal-Kappi

Woche für Woche gehen in Mos-kau Zehntausende Menschen auf die Straße, um gegen die Beschneidung ihrer Rechte zu protestieren. Die Regierung macht jedoch weiter wie bisher, und Präsident Putin setzt auf sein bewährtes Image der Stärke.

„Dopuskaj“ (Zulassen) und „Otpuskaj“ (Freilassen) lauten die Forderungen auf den Transparenten der Demonstranten. Schriftsteller, Komiker und Oppositionspolitiker schließen sich den Protesten an. „Wir wollen, dass unsere Rechte beachtet werden! Wir kommen wieder! Wir werden solange auf die Straße gehen, wie nötig ist, bis die Verfassung befolgt wird. Russland wird frei sein!“, drohte die für die Wahl zum Stadtparlament nicht zugelassene Kandidatin Jelena Rusakowa. 

Die Proteste beschäftigen mittlerweile sowohl die russische Presse als auch Wissenschaftler in Dis-kussionsrunden. Und das zu einer Zeit, in die das 20. Jubiläum von Wladimir Putin an der Macht fällt. Am 9. August 1999 rückte Putin in die erste Reihe der russischen Politik auf. Sein Vorgänger Boris Jelzin machte ihn zunächst zum Ministerpräsidenten, und nur fünf Monate später wurde Putin Russlands Präsident. Seine Popularität steht in engem Zusammenhang mit der Beseitigung des Chaos’ der Jelzin-Ära und der Wiederherstellung des russischen Nationalstolzes. 2014, nach dem von vielen Russen als historischen Moment empfundenen Krim-Anschluss, hatten Putins Zustimmungswerte ihr Allzeithoch erreicht. 

Doch das Image des starken Präsidenten hat Risse bekommen. Ein neuer sogenannter Krim-Faktor, der seine Umfragewerte aus dem Tal herausholen könnte, ist innen- wie außenpolitisch nicht in Sicht. Dagegen häufen sich die Misserfolge: Die Sanktionen des Westens wirken sich aus, immer wieder kommt es zu folgenschweren Pannen wie die Explosion der „Wunderwaffe“ auf dem Militärgelände von Njonoska, bei dem Radioaktivität freigesetzt wurde. Kurz davor ereignete sich eine Explosion auf einem Munitionslager in Krasnodar, die im Radius von 20 Kilometern zur Evakuierung der Bevölkerung führte. Daneben wüten seit Wochen Waldbrände in Sibirien. Bei all diesen Katastrophen erwies sich die Staatsmacht als hilf- und machtlos. 

Es sind Stagnation, Behördenwillkür und die Korruption der Eliten, welche die Menschen auf die Straße treiben. Die Proteste haben laut Beobachtern eine andere Qualität bekommen gegenüber den Massenprotesten von 2011/2012. Die Demonstranten fordern Respekt gegenüber den Bürgern und ihre demokratischen Rechte ein. Es gehen Menschen auf die Straße, die keiner politischen Partei angehören, deren einzige Verbindung über das Internet läuft. Sie haben eine gehobene Protestkultur entwickelt: ohne Provokationen, Ausschreitungen oder revolutionäre Barrikaden. Und sie entwickeln neue Strategien. Werden sie von der Polizei aus einem Teil der Stadt vertrieben, versammeln sie sich blitzschnell anderswo, oder sie organisieren ihre Demonstrationszüge gleich von verschiedenen Richtungen aus. Neu ist, dass die Bewegung ohne Führer auskommt. Sie organisiert sich selbst über die sozialen Netzwerke. Deshalb bleibt auch die Eliminierung der Führer – wie die wiederkehrenden Verhaftungen Alexej Nawalnijs oder zuletzt die von Ljubow Sobol – wirkungslos. In den vergangenen drei, vier Monaten zeigte sich in Mos-kau eine bislang verborgen gebliebene Mittelschicht in der Öffentlichkeit, auf deren Forderungen die Regierung keine angemessene Antwort findet. Ihre Plattform sind die sozialen Netzwerke, die der Propaganda der regierungstreuen TV-Sender eigene Sichtweisen entgegensetzt. 

Mit so viel Gegenwehr wegen einer als unbedeutend geltenden Stadtparlamentswahl hat Putins Elite offenbar nicht gerechnet. Wohl auch nicht mit dem Mut, den die Demonstranten beweisen. Sie zeigen weder Angst vor dem harten Vorgehen der Polizei noch vor Gefängnisstrafen. 

Angesichts der angeheizten Stimmung und des Muts der Demonstranten öffnet sich auch die Presse gegenüber Themen, die bislang nicht, nur in langweiligen, regierungstreuen Texten oderallenfalls am Rande behandelt wurden. Journalisten scheuen sich nicht, mit Namen und Foto ihre kritischen Analysen  zu veröffentlichen. Politologen und Wissenschaftler diskutieren öffentlich darüber, dass die Regierung eine gemeinsame Sprache mit den Unzufriedenen finden sollte, und Fragen nach einer „Putin-Dämmerung“ werden laut wie auch die Tatsache, dass Putin nicht ewig regieren können wird. 

Solange der Lebensstandard in einem Land zufriedenstellend ist, mag sich die Bevölkerung mit nicht gewährten Bürgerrechten noch arrangieren. Kann die Regierung ihre Versprechen aber nicht mehr halten, regt sich Widerstand. Genau das passiert gerade in Russland. Allgemein kritisiert wird die Härte, mit der Russlands Mächtige auf die Proteste der Jugend reagieren. Stagnation, Verkrustung und Ultrakonservatismus führten nur dazu, dass die Jugend sich vom System abwende. Erhöhe sich der Druck im Kessel, könne dies zur Explosion führen. Auch, dass die Sicherheitskräfte maskiert sind, stößt auf Widerstand. Bereits 1000 Bürger haben eine Petition unterschrieben, in der sie fordern, dass Polizisten Namensschilder tragen. 

Putin selbst steht in der Kritik, weil er sich, während 50000 Menschen in Moskau protestierten, bei einem Biker-Festival in Sewastopol auf der Krim aufhielt. Dort mimte er auf einem Motorrad in Begleitung von Alt-Rockern den starken Mann.

Zwar ist die Zahl von 50000 Demonstranten im Verhältnis zur 

Moskauer Gesamtbevölkerung von zirka zwölf Millionen gering, doch sehen Politologen in den Protesten eine Gefahr für die Kremlelite. Es gehe  um eine Systemänderung, da den Oppositionellen nichts an materiellen Dingen liege, sondern sie die Freiheit fordern. .Kremlsprecher Dmitrij Peskow ließ bezüglich Putins Schweigen zu den Protesten verlauten, der Präsident verfolge die Ereignisse sehr wohl, müsse sich aber um eine Vielzahl von Problemen kümmern, sodass er nicht zu jedem Einzelnen seine Meinung sagen könne.