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23.08.19 / Als die Menschen in Leipzig auf die Straße gingen / Die Montagsdemonstrationen besiegelten das rasche Ende der DDR

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-19 vom 23. August 2019

Als die Menschen in Leipzig auf die Straße gingen
Die Montagsdemonstrationen besiegelten das rasche Ende der DDR
Klaus J. Groth

Drei Jahrzehnte nach der ersten machtvollen Montagsdemonstration am 4. September 1989 in Leipzig, ist ein Streit entbrannt, wem die Friedliche Revolution gehört. Trug die kleine Gruppe der Opposition den Protest auf die Straße? Oder waren es die bis dahin Unpolitischen, die nach der ersten Massenflucht aus Ungarn Rechte einforderten? Der Streit, heftig unter ehemaligen Bürgern der DDR ausgefochten, hat etwas von der Problematik, ob Ei oder Henne zuerst da waren. Eines bedingte das andere, die Opposition hatte mit Friedensandachten das Feld vorbereitet, die massenhaften Republikfluchten hatten die Daheimgebliebenen auf die Straße getrieben.

Im Sommer 1989 hatten sich Menschen aus der DDR in die westdeutsche Botschaft in Prag geflüchtet. 4000 waren es im September. Das gleiche Bild bot sich in der westdeutschen Botschaft in Warschau. 6000 Flüchtlinge aus der DDR hofften dort auf ihre Ausreise.

Das war die Situation, als es am 4. September 1989 zur ersten Montagsdemonstration in Leipzig kam. Sie war geplant, ihre Wucht nicht erwartet worden. Nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche trugen die Bürgerrechtlerinnen Katrin Hattenhauer und Gesine Oltmanns ein auf Leinwand gemaltes Transparent auf die Straße: „Für ein offenes Land mit freien Menschen“. Die jungen Frauen hatten Transparente verteilt, auf denen andere Forderungen standen wie „Reisefreiheit statt Massenflucht“. Hattenhauer erinnert sich: „Die Aktion war sorgfältig geplant, Korrespondenten des Westfernsehens waren vorab informiert, Kameras waren vor Ort und unser Aufruf zum Protest war die erste Meldung mit Bildmaterial in der ARD-,Tagesschau‘ am selben Abend. Millionen Menschen in der DDR konnten unseren Protest am Fernseher in ihren Wohnzimmern verfolgen“.

Es war das westdeutsche Fernsehen, das die Bilder von der Massenflucht aus Ungarn und nachfolgend von den Montagsdemonstrationen in die DDR lieferte. Bei der ersten Übertragung hatte der Zufall geholfen. Der Protest fand zur Zeit der Leipziger Messe statt, westdeutsche Berichterstatter waren deshalb anwesend. Dies war jedoch die Ausnahme. Nach der Messe wurde Leipzig für westliche Journalisten gesperrt, das Bildmaterial musste herausgeschmuggelt werden.

Das Fernsehen wurde zur Kommunikationsbrücke. Es gab in der DDR nur wenige Telefonanschlüsse, keine Mobiltelefone, kein Internet. Vor den Kameras westdeutscher Journalisten riss die Staatssicherheit bei der ersten Demonstration die Transparente herunter und versuchte die Demonstranten auseinander zu treiben. Die reagierten mit „Stasi raus“.

Die Bilder, die das westdeutsche Fernsehen aus Leipzig übertrug, lösten in der DDR einen Flächenbrand aus. Nach und nach gingen die Menschen auch in Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), Magdeburg, Plauen, Arnstadt, Rostock, Potsdam und Schwerin auf die Straße. Sie skandierten ihren Protest gegen die politischen Verhältnisse: „Wir sind das Volk“, später „Wir sind ein Volk“. 

Zugleich sah die Welt auf die westdeutschen Botschaften in Prag und Warschau. In Prag verkündete Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher am 30. September nach einem Treffen mit den Außenministern der Sowjetunion, der DDR und der Tschechoslowakei die baldige Ausreise der Flüchtlinge in die Bundesrepublik. Die ersten Züge fuhren bereits am 1. Oktober – kurz vor der 40-Jahr-Feier des sozialistischen Staates – durch die DDR nach Hof in Bayern.

Zentrum der Montagsdemonstrationen blieb Leipzig. Sie erhielten nach den Massenfluchten noch mehr Zulauf. Zu einem der größten Aufmärsche kam es am 9. Oktober 1989. 100000 Menschen marschierten auf dem Leipziger Ring. Sie marschierten nicht ohne Angst, sie fürchteten ein gewaltsames Eingreifen von Polizei und Volksarmee. Tatsächlich waren beim sogenannten „Täglichen Gefechtsstand“ zusätzliche „Kuverts“ ausgegeben worden, in denen die Richtlinien für ein mögliches Vorgehen der bereits gebildeten Einsatzkompanien festgelegt wurden. Mit 25000 Flugblättern versuchten Oppositionelle auf die Einsatzkräfte einzuwirken: „Wir sind ein Volk! Gewalt unter uns hinterlässt ewig blutende Wunden! Für die entstandene ernste Situation müssen vor allem Partei und Regierung verantwortlich gemacht werden.“ 

Zur Deeskalation trug auch der „Aufruf des Sechs“ bei. Im Haus des Gewandhauskapellmeisters Kurt Masur hatten sich die drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung Leipzig für Wissenschaft und Erziehung, für Kultur und für Propaganda (ohne Absprache mit der Partei), ein Theologe (mit Verbindung zur Stasi) sowie ein Kabarettist getroffen. Deren Aufruf trug am Abend im Stadtfunk Kurt Masur vor. Darin baten die Verfasser um Besonnenheit, um einen friedlichen Dialog mit der Regierung führen zu können. Ziel sei die Weiterführung des Sozialismus im Lande. 

Die Einsatzkräfte, angetreten, die Demonstration aufzulösen, hielten sich zurück. Die Führung in Leipzig befürchtete ein Blutbad. Deshalb gab sie Befehl, lediglich Gebäude zu sichern. Zur selben Zeit hatten Offiziersschüler, die zur Verstärkung nach Leipzig verlegt werden sollten, protestiert und sich geweigert, gegen Bürger der DDR vorzugehen. Der Marschbefehl wurde nicht umgesetzt. Sie waren mit dieser Einstellung nicht alleine. Ein ranghoher Offizier begründete später seine Weigerung so: „Ich war Angehöriger einer Armee des Volkes und würde deshalb nie gegen mein Volk handeln.“

Die Montagsdemonstrationen in Leipzig dauerten bis zum März 1990 an. Ihre Höhepunkte hatten sie am 16. Oktober 1989 mit 120000 Teilnehmern und am 23. Oktober 1989 mit 320000 Teilnehmern. Nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer gingen die Menschen in Leipzig nicht mehr auf die Straße. 

Noch im Spätherbst 1989 verteidigte Gregor Gysi SED und Stasi. In der sogenannten Wendezeit führte er die SED. Zum 30. Jahrestag der ersten Montagsdemonstration 2019 lud die Philharmonie Leipzig Gysi zu einem Auftritt mit Konzert in der Peterskirche ein. Heftiger Widerspruch einstiger Bürgerrechtler, unter ihnen Hattenhauer und Oltmanns, die den ersten Protest anführten, stören weder die Philharmonie noch Amtsträger der Kirche, Gysi redet zur Friedlichen Revolution.