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06.09.19 / »Deshalb haben wir das gemacht« / Festrede zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen 2019 von Armin Laschet, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-19 vom 06. September 2019

»Deshalb haben wir das gemacht«
Festrede zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen 2019 von Armin Laschet, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen

Lieber Herr Dr. Fabritius,


sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete aus Bund und Land,


sehr geehrter Herr Weihbischof Hauke, 


sehr geehrter Herr Vizepräsident des Kirchenamtes Dr. Gundlach, 


lieber Herr Staatsminister Dr. Herrmann, lieber Stephan Mayer, 


lieber Herr Jahn als Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, lieber Herr Präsident Dr. Sommer, 


meine Damen und Herren, 


das ist in der Tat so: „Tag der Heimat“ – findet jährlich statt, seit vielen Jahrzehnten. 


Und es war in vielen Jahrzehnten so, dass das nicht unbedingt populär war. Dass „Tag der Heimat“ im politischen Wettstreit eingeordnet wurde zwischen links und rechts. Und ich denke, es ist gut, dass in der heutigen Zeit das kein Thema mehr ist. Dass jeder anerkennt, wie wichtig Heimat ist und wie wichtig die Erinnerung an Flucht und Vertreibung von Menschen ist. 


Ich denke manchmal, wie muss das eigentlich gewesen sein in den 70er oder auch 80er Jahren, die ich so miterlebt habe, wo wir bei mir in der Heimatstadt in Aachen kleine Tage der Heimat hatten, von den Vertriebenen, die ganz in den Westen Deutschlands dann gekommen sind. Was muss es wohl für Menschen, die Flucht und Vertreibung erlebt haben, die schreckliches Leid erlebt haben, bedeutet haben, wenn sie im politischen Streit als Revanchisten oder was auch immer diffamiert worden sind? 


Es ist gut, dass das ein Ende hat. Es ist gut, dass wir heute Erinnerung an diesem zentralen Ort hier in Berlin für ganz Deutschland ohne diese Anfeindungen begehen können. 


Die Tage, in denen wir uns im Moment bewegen, sind ja historische Tage. Heute ist der 31. August. Der Tag, bevor vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg begann. Vor 80 Jahren werden hier in Berlin in unserem Umfeld – vielleicht auch bei schönem Wetter – Menschen sich bewegt haben und haben nicht ahnen können, was für ein schrecklicher Krieg morgen beginnen würde. Und wenn man über diesen Krieg spricht, muss man einfach diese Tage im August immer vor Augen haben. Ja, der erste September ist der Tag des Beginns des Krieges, des Überfalls auf Polen. 


Aber der 23. August, ein paar Tage vorher, ist der Tag des Hitler-Stalin-Paktes. Des Molotow-Ribbentrop-Zusatzabkommens, wo man quasi Landlinien gezogen hatte – Polen aufgeteilt hat. In der Zeit des Kommunismus durfte das gar nicht erwähnt werden, im damaligen Warschauer Pakt, wie Hitler und Stalin sich sieben Tage bevor der Krieg begann über eine Aufteilung Europas verständigt hatten. 


Und wenn man dann diesen Zeitrahmen mal sieht: 23. August 1939 und dann die Charta der Heimatvertriebenen im August 1950. Dann liegen dazwischen nur elf Jahre. Elf Jahre. Was ist das in der heutigen Zeit? Elf Jahre, das ist so gut wie gar nichts. Das ist von 2008 bis 2019. 


Aber in dieser Zeit fand die Aufteilung Europas von zwei Diktatoren statt: Hitler und Stalin. Dann begann ein Weltkrieg. Dann waren sechs Jahre schrecklichen Krieges mit Millionen Toten und am Ende, danach, Deutschland mit zwölf Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen. Und dann 1950 in Stuttgart in Cannstatt die Erklärung der deutschen Heimatvertriebenen mit dem großartigen Verzicht auf Rache und dem Willen, ein geeintes Europa zu bauen. Nur kurze elf Jahre. 


Und deshalb, glaube ich, muss man das manchmal einordnen, was wir so historisch erleben. Und ich habe diese Charta noch einmal nachgelesen: Viele kennen diesen ersten Teil. Sie hat ja drei wichtige Teile. 


Würdigung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen


Der erste Teil: Verzicht auf Rache und Vergeltung. Das war etwas Bedeutendes, 1950 zu sagen: Wir verzichten auf Rache und Vergeltung, obwohl wir gerade alle persönlich Schreckliches erlebt haben. Heimat verloren haben. Angehörige verloren haben. Schreckliche Verbrechen erlebt haben. Und trotzdem zu sagen: Wir verzichten auf Rache und Vergeltung. 


Das war ein großartiger Akt derer, die damals in Cannstatt als gewählte Vertreter der Heimatvertriebenen zusammensaßen. 


Das sagen übrigens nicht alle, bis zum heutigen Tag in der Welt. Die, die in Konflikten waren, die vertrieben wurden, die Unrecht erlitten haben, die sagen nicht alle: Verzicht auf Rache und Vergeltung. Wenn in der Welt jeder sagen würde, ich verzichte, nachdem ich einen Krieg verloren habe, auf Rache und Vergeltung, wäre diese Welt friedlicher. Also insofern kann sich bis heute die Welt ein Beispiel nehmen an dem, was die Heimatvertriebenen 1950 da aufgeschrieben haben. Das ist ein ganz wichtiger Satz.


Aber das Zweite, was Sie sagen – das ist nicht ganz so bekannt –, ist der großartige Satz: „Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.“ Eine echte Vision, eine doppelte Vision. Einmal: Wir wollen die Einheit Europas. Aber wir wollen diese Einheit ohne – wie Sie sagen – Furcht und Zwang. 


Damals begann die Sowjetunion erst ihren Einfluss aufzubauen. Die Teilung Europas setzte sich geradezu fort. Alle Staaten in Mittel- und Osteuropa wurden eingegliedert in dieses stalinistische System. Stalin regierte damals, 1950. Und in dieser Zeit zu sagen: Wir Vertriebenen setzen auf die Einheit Europas, ohne Zwang und Furcht, war quasi eine Vorwegnahme der Hoffnung, die sich dann leider erst 1989 mit dem Fall der Mauer, mit dem Ende des Kommunismus und dann mit einer großen Europäischen Union, die alle Staaten Mittel- und Osteuropas umfasst, realisieren konnte. 


1950 formuliert, ‘89 dann von den Menschen in der früheren DDR mutig erkämpft – auch das gerade in diesen Tagen in der Erinnerung wieder sehr wach: das Paneuropäische Picknick, das Otto von Habsburg an der ungarischen Grenze, in Sopron, organisiert hat, wo die Ungarn plötzlich die Chance hatten, mal das Tor einen Moment aufzumachen und die ersten 600 herüberlaufen konnten. Das war im August. 


Dann die Friedensgebete in den Kirchen. Ich finde auch, dass ist in der heutigen Zeit häufig vergessen, wo sich viele über Kirche lustig machen, dass es in den Kirchen in der DDR begonnen hat – dass man gesprochen hat. Übrigens in Polen mit dem polnischen Papst und Lech Walesa ebenfalls es kirchlich bewegte, gläubige Menschen waren, die gesagt haben: Wir finden uns mit dieser Welt, die geteilt ist, nicht ab. Wir gehen in die Nikolaikirche in Leipzig. Wir gehen anderswo hin. Wir machen Friedensgebete. Und diese Menschen, am Ende, haben es geschafft, dass ein so gigantisches System wie die Sowjetunion ohne einen Schuss zusammengebrochen ist. Auch darauf sollten wir Christen heute mal stolz sein, was wir da bewegt haben. 


Also diese Europa-Vision war das Zweite. Und das Dritte? Das ist fast ein Appell an jeden, der sich heute mit Integrationspolitik beschäftigt. 


Die deutschen Heimatvertriebenen sagen: Erstens, wir verzichten auf Rache und Vergeltung. Zweitens, wir wollen das geeinte Europa. Und drittens – und das ist dann die Tagesaufgabe – wir wollen jetzt hart und unermüdlich arbeiten für den Wiederaufbau des Landes, in dem wir jetzt sind, für diese Bundesrepublik Deutschland. 


Auch das wünsche ich mir von jedem, der, aus welchen Gründen auch immer, hierherkommt, vielleicht auch Flucht, vielleicht auch Vertreibung erlebt hat, dass er aber mit der Haltung herangeht: Ich will jetzt hier meinen Beitrag selbst leisten. Ich warte nicht auf Leistungen anderer. Ich will hart arbeiten, damit es diesem Deutschland gut geht. 


Und das war die Aussage von 1950. Die dritte wichtige, die die Vertriebenen damals den Deutschen, die hier waren, die ein Land in Trümmern hatten, versprochen haben. Wir helfen mit beim Wiederaufbau. Und auch dafür Dank an diesem Jahrestag. Für diese große Leistung von zwölf Millionen Menschen für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.


Heimat und Heimatvertreibung


Nun ist das Thema Heimat heute wieder moderner. Viele Menschen suchen gerade in dieser globalisierten Welt, wo alles sich beschleunigt, wo viele auch Identität suchen, nach etwas, was ihnen selbst Identität schenkt. Und viele sagen: Ja, was heißt denn Heimat? Wie kann man das denn definieren? 


Das ist gar nicht so einfach. Das definiert jeder Mensch individuell für sich. Das kann der Ort sein, an dem er geboren wurde, an dem seine Freunde sind, in dem er sich sicher und wohlfühlt, in dem er bestimmte Lieder, vertraute Speisen, bestimmte Dialekte – vielleicht einzelne Worte, vielleicht Worte, die die Eltern einmal gesagt haben – vielleicht auch die Kirche, in der er getauft wurde, in der er groß geworden ist – was immer ihm besonders persönlich wichtig ist. Das ist Heimat. 

Und Heimat kann dann auch sein, dass jemand vertrieben wurde, dass er an einem anderen Ort alles erlebt hat – diese Heimat – und dann woanders hingeht, tausend Kilometer entfernt sich dann neu niederlässt und dann da eine zweite Heimat entdeckt. Und dazu braucht es diese Anerkennung derer, die schon da sind, für die, die denn da kommen. 


Wir haben in vielen Städten – Nordrhein-Westfalen ist ja fast am weitesten weg vom Osten und Aachen noch weiter als jede andere Stadt –, aber trotzdem gab es ein Haus des deutschen Ostens. Gab es den Tag der Heimat. Gab es die Erinnerungskultur, die sich auch wiederfindet in der Stadtgeschichte, wo man erzählen muss, wer von denen, der da gekommen ist, ist denn vielleicht danach in den Stadtrat gegangen, hat sich für das Gemeinwesen engagiert, ist vielleicht sogar Bürgermeister, Abgeordneter, Oberbürgermeister geworden und hat seine neue Heimat dann in Parlamenten oder in Rathäusern vertreten. 


Wir haben ein Oberschlesisches Landesmuseum bei uns in Nord­rhein-Westfalen. Wir haben ein Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte. Und das habe ich einmal besucht und habe da etwas entdeckt, was ich gerade für Kinder und Jugendliche heute wichtig finde. Wie erklären Sie heute Kindern und Jugendlichen, was der Tag der Heimat ist? Wie erklärt man heute Kindern und Jugendlichen, was Vertreibung ist. 


Mein Sohn ist 30, 1989 geboren. Der weiß selbst aus eigenem Erleben nicht mal mehr, was deutsche Teilung ist. Der ist nie über Helmstedt gefahren als Jugendlicher, hat nie hier im Bahnhof Friedrichstraße Zwangsumtausch machen müssen, weiß gar nicht, was Mauer wirklich bedeutet, wenn man sie nicht selbst gesehen hat. Und der ist 30. Das sind die, die die Schulen jetzt schon verlassen haben. Aber wie soll man denn heute einem 15-jährigen Kind erklären, was es eigentlich für die Großeltern und Urgroßeltern bedeutet hat, die eigene Heimat zu verlassen? 


Und in diesem Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte haben die einen kleinen Koffer aufgestellt, wo man ein einziges Teil mitnehmen durfte. Das, was damals die Menschen als einziges Teil mitnahmen, war die Bibel. Ob die jungen Leute heute sich für die Bibel entscheiden würden, wage ich mal zu bezweifeln. Es wäre wünschenswert. 


Aber einen Menschen individuell vor die Frage zu stellen: Wenn du jetzt vertrieben würdest, wenn du jetzt deine Heimat verlassen würdest, was würdest du mitnehmen? Ein Teil darfst du in den Koffer packen. Und das kann, glaube ich, gerade Kindern und Jugendlichen einmal klarmachen, was Heimatverlust bedeutet. Dass du nur einen Koffer hast, in den du ein Stück hineinnimmst. Und alles andere, was da ist, was dein Umfeld ist, was deine Freunde sind: Das musst du zurücklassen, im Zweifel auf alle Zeiten. 


Flucht und Vertreibung in der heutigen Erinnerungskultur


Und diese Kultur, das weiterzuerzählen, was Vertreibung, was Heimatverlust bedeutet, das ist etwas, was wir gerade in der heutigen Zeit wieder intensiver machen müssen. Und ich bin froh – ich habe es am Anfang gesagt –, dass wir das heute ohne dieses parteipolitische Hickhack machen können. 


Und der Verdienst liegt in der Zeit, wo wieder eine schreckliche Erfahrung plötzlich dieses Links-Rechts-Schema durchbrochen hat. Vertreibung war eigentlich gedanklich weg, und dann passierten die Kriege auf dem Balkan. Plötzlich, in den 90er Jahren, konnte man am Fernsehen wieder Vertreibung sehen. Ethnische Säuberung sehen. Massenvergewaltigung sehen. All die schreck­lichen Dinge, die die Vertriebenen noch im Kopf hatten, waren plötzlich wieder Tagespolitik. Und in dem Moment gab es plötzlich auch von der politischen Linken Menschen, die gesagt haben, das dürfen wir nie wieder zulassen. 


Und dann ist ein neuer Konsens entstanden, der auch eine neue Erinnerungskultur möglich machte. Mit dem Zentrum in Erinnerung an die Vertreibung, hier in Berlin, wo Persönlichkeiten aller Parteien am Ende mitgewirkt haben und hier auf Dauer jetzt in Berlin an die Vertreibung erinnert wird. Und ich glaube, diese Erinnerung ist wichtig, wenn man will, dass das nie wieder passiert.


Wenn man so tut, als sei Vertreibung irgendetwas, was so in Folge des Zweiten Weltkriegs dann am Ende passierte – von manchen heimlich noch dazugesagt, ja, die sind‘s ja selber schuld: Nein, die, die da vertrieben wurden, sind gar nicht schuld. Sie sind Opfer eines Krieges, den andere angefangen haben. Und wir dürfen auch nicht zulassen, dass das quasi als selbstverständlich beschrieben wird, dass die nun halt als Opfer am Ende vertrieben worden sind. Das gilt für die Sudetendeutschen. Das gilt für die Ostpreußen.


Aber das wurde bei uns so vermittelt. Ich habe auch mal bei uns die Schulbücher in Nordrhein-Westfalen durchgeschaut: Ja, der Teil, der sich mit Vertreibung beschäftigt, ist noch ausbaufähig. Also, das kann man noch besser erklären, was da wirklich stattgefunden hat. Und deshalb ist das Erinnern daran wichtig, dass man weiß, sowas soll in Zukunft nie wieder passieren. 


Und wir haben alle dann – ich fand den Film damals sehr beeindruckend – die Flucht 2007 mit Maria Furtwängler gesehen: Da hat man mit einem großen Film an die Empathie derer, die das sonst vielleicht nicht so auf dem Schirm haben, erinnern können. Und auch da hat man gemerkt – das gilt jetzt für uns alte Westdeutsche, da zähle ich mal Aachen und Nordrhein-Westfalen dazu, aber Bayern mindestens gleichermaßen –, dass das nicht so war, dass, wenn dann die Vertriebenen kamen, die gerade aus Ostpreußen geflohen sind, über die vereiste Ostsee, unter russischem Bombardement mühevoll am Ende das Land erreicht haben, dann quer durch Deutschland zogen. In dem Film kommt Maria Furtwängler in einem bayerischen Dorf an, und da steht ein Schild „Flüchtlinge sind hier nicht willkommen“. 


Da waren keine Syrer mit gemeint, sondern das waren Menschen, die von einem Teil Deutschlands in den anderen geflohen sind. Und weil bei uns die Städte zerstört waren und keine Wohnungen da waren, war die Bereitschaft gegenüber denen, die da kamen, nun besonders großzügig zu sein, eher unterentwickelt. Aber am Ende ist es geschafft worden. Am Ende haben viele dazu beigetragen, besonders die die gekommen sind. Weil sie bereit waren, sich in der neuen Gemeinschaft zu engagieren. 


Und das hat viele persönliche Merkmale betroffen. Zum Beispiel war das auch eine Frage zwischen Protestanten und Katholiken, die damals noch anders bewertet wurde. Das protestantische Kind – ich hatte so ein Beispiel bei uns in Westfalen – kam in einen katholischen Ort im Münsterland. Dann war Fronleichnamsprozession. Dann wurden große Blumenteppiche ausgelegt, von den Kindern vorbereitet. Und dann zog die Prozession, aber mitmarschieren durften natürlich nur die katholischen Kinder. Und dann stand das protestantische Kind, das quasi neu in diesen Ort kam, am Rande. 


Dieses Empfinden, dass auch das religiös damals nicht so selbstverständlich war, das ist uns heute kaum mehr in der Vorstellung, wo wir ökumenisch eng zusammenarbeiten. Aber was das für ein Kind bedeutet, wenn alle anderen mitmarschieren und man selbst nicht mitmarschieren darf, kann man sich leicht vorstellen. Das war die große Leistung, dass das alles so zusammengeführt worden ist, dass wir heute in dieser guten Atmosphäre einen solchen Tag der Heimat hier feiern können. 


Und Flucht und Vertreibung war dann immer Teil der Nachkriegsgeschichte, und man hat es nur anders genannt. Wenn ich gleich hier den Saal verlasse und etwas früher zurückgehe, gehe ich nach Köln. Und da wird gefeiert: 40 Jahre Cap Anamur. Das waren die, die vor dem Kommunismus damals flohen ins Südchinesische Meer. Rupert Neudeck – die Cap Anamur hat die dann gerettet. 


Und da war ich damals 18, als ich diese Bilder sah. Das hat mich damals maßlos aufgeregt, dass auch selbst diese Flucht parteipolitisch ausgenutzt wurde. Die politische Linke wollte von Cap Anamur und Rupert Neudeck nichts wissen, weil ja doch gerade in Vietnam der Kommunismus gewonnen hatte. Und die, die davor geflohen waren, eigentlich Konterrevolutionäre oder irgendetwas. Jedenfalls keine Menschen, die Respekt verdient hatten. 


Viele sind dann hier aufgenommen worden. Viele sind Erfolgsgeschichten geworden, weil der Mensch im Mittelpunkt stand und nicht die politische Ideologie. Und deshalb müssen wir uns das wachhalten – dieses Empfinden, den Menschen in den Blick zu nehmen und unsere Erinnerungskultur darauf ausrichten. 


Aktivitäten der Landesregierung


Und deshalb haben wir gesagt auch 2017/18/19, heute bleibt die Frage aktuell. Wir haben in der neuen Landesregierung nach 2017 einen eigenen Beauftragten für die Belange der Vertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler ernannt. Heiko Hendriks, der ist heute hier. Sowas hat es in Nordrhein-Westfalen in den letzten 50 Jahren nicht gegeben. Ich finde es richtig, dass ein eigener Beauftragter für die Landesregierung sich um diese Gruppe kümmert. Deshalb haben wir das gemacht.


Fortsetzung Seite 3

Fortsetzung der Festrede von Armin Laschet, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, zum Tag der Heimat des Bundes der Vertriebenen am 31. August 2019 in der Urania Berlin


Und der reist jetzt in die Herkunftsgebiete. Der kümmert sich auch um die deutsche Minderheit in diesen Orten. Der schafft wirtschaftliche und kulturelle Kontakte – viele aus Oberschlesien. Eine kleine Delegation ist sogar heute mit dabei, die eigens angereist ist von der Minderheit, um hier am Tag der Heimat in Berlin mit dabei zu sein. Und das haben wir in vielen Orten, weil das die sind, die sich für Versöhnung einsetzen. 


Dann, lieber Bernd Fabritius, Nordrhein-Westfalen ist auch Patenland der Siebenbürger Sachsen und der Oberschlesier. Das hat man 1957 beschlossen. Als der Jahrestag 2017 war, ist niemand nach Dinkelsbühl gereist, weil man gar nicht mehr auf dem Schirm hatte, dass man eine Patenschaft für das Land hatte. 


Das finde ich etwas bemerkenswert. Wenn man eigentlich Pate ist von einem Kind, vergisst man das ein Leben lang nicht, dass man Pate ist. Hier im politischen Spektrum ist das ein wenig vergessen worden. 


Und ich war dann hoch erstaunt. Ich war dann 2018 bei Euch in Dinkelsbühl. Der Bayerische Ministerpräsident ist jedes Jahr dort, um das auch mal lobend zu sagen. Bayern hat       das immer sehr gepflegt. Und dann war das der erste Ministerpräsident nach fast 50 Jahren, wenn überhaupt, der einmal zu seinen Paten, den Siebenbürger Sachsen nach Dinkelsbühl, gereist ist. 


Und ich finde, daran müssen wir wieder anknüpfen. Das muss wieder selbstverständlich sein, dass auch westdeutsche Bundesländer, die Patenschaften in schwieriger Zeit in den 50er Jahren übernommen haben, sich auch 60 und 70 Jahre später noch daran erinnern, dass sie Paten sind. Und das fordert Engagement, das fordert Bildungsarbeit. Das fordert auch Präsenz bei denen, die die Kinder und Kindeskinder sind derer, die damals geflohen sind. 

Tage der Heimat haben Zukunft



Und deshalb bin ich sicher, dass der Tag der Heimat Zukunft hat. Dass wir auch in den nächsten Jahren Tage der Heimat begehen werden. Tage der Heimat, die traurig sind, wenn man an die sinnt, die ihr Leben verloren haben, ihre Heimat verloren haben. Tage der Heimat, die aber auch, ja, Anlass zur Freude und zum Feiern sind, weil so vieles so gut gelungen ist. 


Und ich sage das auch in diese Stimmung, die wir in Deutschland haben – morgen sind da Wahlen in Ostdeutschland, aber auch im Westen erleben Sie das –, in diese Stimmung hinein: Dass alles so schlecht ist, dass man aggressiv sein muss, dass man wütend sein muss. Dass man andere beschimpfen muss – möglichst auf anonymen Accounts irgendwen einfach persönlich beleidigen und angreifen. 


Nein, das ist nicht das, was uns stark gemacht hat. Das, was uns stark gemacht hat, selbst in der schwierigen Zeit, ist der Respekt vor dem anderen, der eine schwierige Situation hat, der hierherkommt, dem man auch eins zu eins und nicht auf Twitter, sondern persönlich begegnen kann. Mit dem man reden muss, dem man zuhören muss. Das hat uns ausgezeichnet. 


Und deshalb wünsche ich mir, dass diese Wut, diese Aggressivität von links und rechts – es ist nicht nur eine Seite –, dass das aufhört und wir wieder zu dieser alten Tradition, die die Bundesrepublik so gut geprägt hat, des gegenseitigen Miteinanders zurückkehren. Uns geht‘s doch in Deutschland gut, besser als anderswo, wo Krieg, Vertreibung, Not, Arbeitslosigkeit die Menschen quält. Uns geht‘s doch gut, und lasst uns das doch auch einmal sagen. Lasst uns froh sein, dass wir in diesem Deutschland, in einem friedlichen und geeinten Europa leben und dass wir unsere Kultur, unsere Traditionen pflegen können und das auch offen sagen können. Das wünsche ich uns. 



Alles Gute für den Tag der Heimat.