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06.09.19 / »Österreich ist das, was übrig bleibt« / Vor 100 Jahren wurde in Saint-Germain aus der einstigen Großmacht und Führungsmacht Deutschlands der heutige Kleinstaat

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-19 vom 06. September 2019

»Österreich ist das, was übrig bleibt«
Vor 100 Jahren wurde in Saint-Germain aus der einstigen Großmacht und Führungsmacht Deutschlands der heutige Kleinstaat
Heinz Magenheimer

Der Erste Weltkrieg wurde beendet durch die Pariser Vorortverträge, welche die Siegermächte den einzelnen Mittelmächten diktierten. Die Reihenfolge der Friedensschlüsse korrespondierte dabei mit der Bedeutung des jeweiligen Verlierers. Dem Frieden von Versailles für das Deutsche Reich folgte am 10. September 1919 der im Schloss Saint-Germain-en-Laye unterzeichnete Frieden für Österreich. 

Nach dem Ende Österreich-Ungarns kam es in den Ländern der ehemaligen Donaumonarchie zu großen Umwälzungen in fast jeglicher Beziehung, wobei die daraus resultierenden Herausforderungen abrupt hereinbrachen: Verhinderung von Putschversuchen, Versorgung der notleidenden Bevölkerung, Umstellung der Wirtschaft auf die Belange eines Kleinstaates. Für Adel, Großbürgertum und Armee bedeutete der Zerfall der Monarchie ein sehr schwer zu verkraftendes Trauma.

Die Lebensfähigkeit des neuen Staates wurde von vielen angezweifelt. Die Nationalversammlung in Wien wählte am 12. November 1918 den Namen „Deutsch-Österreich“ und beschloss gleichzeitig den Anschluss an das Deutsche Reich. Das Staatsgebiet sollte gemäß dem Selbstbestimmungsrecht der Völker auch das deutschsprachige Südtirol sowie Teile Unterkärntens, der südlichen Steiermark mit Marburg sowie das Sudetenland umfassen.

Diese Pläne stießen sofort auf den Widerstand der Vertreter der Tschechei, Italiens und des Staates der Slowenen, Kroaten und Serben beziehungsweise des aus dessen Zusammenschluss mit Serbien hervorgegangenen Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS-Staat). Sie lehnten Verhandlungen über das Sudetenland genauso ab wie eine Volksabstimmung in den betroffenen Gebieten. Südkärnten wurde von slowenischen Truppen besetzt, die den Anspruch des SHS-Staates auf große Teile Kärntens untermauerten. Die Nationalversammlung beschloss am 7. Mai 1919 die Verhandlungsziele, die bei der Friedenskonferenz in Paris vertreten werden sollten. Man berief sich dabei optimistisch auf das Selbstbestimmungsrecht gemäß dem 14-Punk­te-Programm des US-Präsidenten Woodrow Wilson.

Staatskanzler Karl Renner, der designierte Delegationschef, zeigte sich skeptisch. Wissend um die Friedensbedingungen für das Deutsche Reich sagte er vor seiner Abreise, am 7. Mai 1919, dass der Weg der Friedensdelegation weniger einem Gang an den Bera­tungs­tisch als einem Bußgang gleichen werde. Als die Delegation in Paris eintraf, wurde sie in St. Germain-en-Laye wie Internierte behandelt. Die am 2. Juni überreichten Friedensbedingungen bestätigten den Pessimismus Renners in dramatischer Weise.

So sollte die Nordgrenze der ehemaligen Kronländer Nieder- und Oberösterreich die Grenze zur Tschechei bilden, was den Verlust großer überwiegend von Deutsch-Österreichern besiedelter Gebiete bedeutete. Dahinter stand nicht nur die Regierung in Prag, sondern auch das Interesse Frankreichs, der neuen militärischen Führungsmacht in Europa, an einer starken Tschechoslowakei. Dieser neue Staat sollte als Verbündeter gegen Deutschland aufgebaut werden. Renner verwies darauf, dass die von der Grenzverschiebung betroffenen fast drei Millionen Deutsch-Österreicher in einem geschlossenen Raum lebten. Die Berufung Prags auf die „historischen Grenzen“ war nicht haltbar, denn man negierte dieses Prinzip glatt, als es um die Einverleibung slowakischer Gebiete ging, die innerhalb der „historischen Grenzen“ Ungarns lagen. Aber es half nichts. 

Auch im Falle Südtirols musste die Delegation eine Niederlage hinnehmen. Seit dem Geheimvertrag vom 26. April 1915 mit der Entente strebte Italien nach dem „cisalpinen“ Tirol mit seiner „natürlichen“ Grenze am Brenner. Die italienischen Vertreter pochten auf diesen Vertrag, stießen aber zunächst auf Widerstand. Wilson beugte sich schließlich der Forderung, obwohl der neunte seiner „14 Punkte“ vorgesehen hatte, die Grenzen Italiens entlang „klar erkennbarer Linien der Nationalität“ zu ziehen. Er verwarf auch den Plan einer direkten Verbindung zwischen Nord- und Osttirol entlang des Pustertales. Das Prinzip der Wasserscheide war nicht begründbar, da es als Grenze in Europa kaum angewendet wurde. 

Während die österreichische Delegation die Untersteiermark preisgeben musste, gelang es wenigstens, in Kärnten eine Volksabstimmung in den strittigen Gebieten anzusetzen. Diese Volksabstimmung vom 20. Oktober 1920 erreichte, dass der Hauptteil der umkämpften Gebiete bei Österreich verblieb, wenn man auch Gebietsverluste hinnehmen muss­te. Immerhin erreichte die Delegation, dass die Siegermächte der Abtretung von Teilen Westungarns, des heutigen Burgenlandes, an Österreich zustimmten. Offenbar lohnte es sich nicht, für Ungarn, der ebenfalls ein Verliererstaat des Weltkrieges war, in die Schranken zu treten. Erst die Volksabstimmung in Ödenburg vom 14. Dezember 1921 schuf die Grundlage für den Grenzverlauf.

Bevor der Friedensvertrag am 10. September 1919 unterzeichnet wurde, hatten die Siegermächte die österreichische Delegation stark unter Druck gesetzt und sogar mit dem Einmarsch in Österreich gedroht. Die Alliierten erlaubten nur eine Berufsarmee von 30000 Mann, sicherten sich Pfandrechte auf alle Staatseinnahmen und verboten den Staatsnamen „Deutsch-Österreich“. 

Indem die Alliierten ein verhülltes Anschlussverbot erließen, schufen sie reichlich Zündstoff für die künftige Entwicklung Österreichs. Dieses Verbot, das vor allem dem Drängen Frankreichs zuzuschreiben war, rief starke Emotionen hervor. Volksbefragungen in Tirol und Salzburg ergaben 1921 überwältigende Mehrheiten zugunsten des Anschlusses. Offenbar sahen zahlreiche Bürger darin die einzige Chance auf ein politisches und wirtschaftliches Überleben. Die Nationalsozialisten belebten den Anschlusswunsch ab 1933 mit neuer Brisanz, und dieser wurde nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich Wirklichkeit. Somit trat derjenige Fall ein, den Frankreich 1919 unbedingt hatte verhindern wollen, nämlich ein beträchtlicher Machtzuwachs Deutschlands.

Da auch Ungarn 1919 enorme Gebietsverluste hinnehmen muss­te, gab es einen weiteren Staat, der nach „Revision“ strebte. Flächenmäßig waren in Südosteuropa nur der neue SHS-Staat, das spätere Jugoslawien, und Rumänien Gewinner. Es lässt sich konstatieren, dass 1919 nicht das Selbstbestimmungsrecht der Völker gemäß den Ankündigungen Wilsons durchgesetzt wurde, sondern der Machtwille der Siegermächte, die damit zahlreiche Konfliktherde schufen, die eine unheilvolle Wirkung entfalteten. Der Kleinstaat Österreich besaß nurmehr den Umfang der habsburgischen Besitzungen um das Jahr 1500. Der französische Ministerpräsident Clemençeau drückte es so aus: „Österreich ist das, was übrig bleibt“.