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06.09.19 / Rudolf Steiners und Emil Molts gemeinsames Baby / In Stuttgart wurde vor 100 Jahren die erste von mittlerweile 1149 Waldorfschulen gegründet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-19 vom 06. September 2019

Rudolf Steiners und Emil Molts gemeinsames Baby
In Stuttgart wurde vor 100 Jahren die erste von mittlerweile 1149 Waldorfschulen gegründet
Wolfgang Kaufmann

Obwohl der aus Kroatien im damaligen Österreich-Ungarn stammende Rudolf Steiner nur mit Ach und Krach den Doktortitel erlangt hatte und seine nachfolgende wissenschaftliche Tätigkeit als Philologe vielfach auf vernichtende Kritik stieß, fühlte er sich berufen, alle möglichen Lebensbereiche zu reformieren. Dazu zählten Religion, Medizin, Kunst, Landwirtschaft und das Sozialwesen sowie auch die Pädagogik. Grundlage des Ganzen sollte dabei in jedem Falle seine anthroposophische Weltanschauung sein. Diese war ein Gemisch von Ideenbrocken aus diversen esoterischen Lehren, darunter vor allem der spiristisch-okkultistischen Theosophie mit ihren unreflektierten Anleihen beim Hinduismus und Buddhismus. Im Laufe der Zeit steigerte sich Steiner zunehmend in die Rolle eines „Wissenden“ hinein, der über die Fähigkeit zur „übersinnlichen Welterkenntnis“ verfüge, was Kurt Tucholsky mit der Bemerkung quittierte, der Anthroposoph wolle offenbar zum „Jesus Christus des kleinen Mannes“ avancieren. So „erschaute“ Steiner angeblich mit „nach rück­wärts gerichtetem hellseherischen Blick“ die 

„Akasha-Chronik“, die das gesamte „planetare Schicksal der Erde“ beschreiben und zugleich auch noch das „Menschheitsgedächtnis“ enthalten solle.

Um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren, schrieb der Begründer der Anthroposophie die gewonnenen „Einsichten“ nieder, womit er nicht weniger als 42 Bände füllte. Außerdem hielt Steiner um die 5000 Vorträge vor Publikum jeder Art. Dass dieses immer wieder bereit war, sich über „Wurzelrassen“ mit der „weißen Menschheit“ an der Spitze, Reinkarnation und Karma, das Böse in Form von Luzifer und Ahriman sowie ähnliche Dinge belehren zu lassen, resultierte aus der Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Zumutungen der modernen, industrialisierten und in hohem Maße durchrationalisierten Welt trieben immer mehr Menschen in die Arme von charismatischen Blendern wie Steiner, die das nach wie vor bestehende Bedürfnis nach dem Geheimnisvollen und Spirituellen stillten.

Zu den gläubigsten Anhängern des Anthroposophen, der sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs trotz seines mittlerweile fortgeschrittenen Alters von fast 60 Jahren erneut auf eine Vielzahl von Projekten gestürzt hatte, gehörte der Stuttgarter Industrielle Emil Molt. Dieser war Haupteigentümer der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik – benannt nach dem berühmten Luxushotel in New York. Molt wollte eine Schule für die Kinder der rund 1000 Beschäftigten im Stuttgarter Hauptwerk des Unternehmens gründen. Mit deren Leitung beauftragte er Steiner, nachdem der am 23. April 1919 ein anthroposophisches Konzept für die Bildungseinrichtung vorgestellt und dieses vom Betriebsrat begeistert aufgenommen worden war. Anschließend kaufte Molt ein geeignetes Gebäude auf der Uhlandshöhe und stattete die Schule mit 100000 Mark Startkapital aus seinem Privatvermögen aus.

Die zur Verfügung gestellten Mittel erlaubten die Einstellung von zwölf Lehrern, die von Steiner in einem zweiwöchigen Schnellkurs auf ihre Aufgabe vorbereitet wurden. Der Lehrbetrieb begann vor 100 Jahren, am 7. September 1919, unter der fortwährenden fachlichen Aufsicht Steiners, der diese letztlich bis zu seinem Tode im März 1925 innehatte. Am Anfang gingen 256 Schüler in die nunmehrige Waldorfschule. Zu 191 Arbeiterkindern, deren Schulgeld die Firma zahlte, kamen noch 65 aus bessergestellten Familien, die sämtlich anthroposophischen Kreisen angehörten.

Wenige Jahre später übertrug Molt, der mit Herz und Seele an der Schule hing, einen Großteil seiner Anteile an der Zigarettenfabrik der anthroposophischen Holding „Der Kommende Tag“, Aktiengesellschaft zur Förderung wirtschaftlicher und geistiger Werte. Die ging 1925 in Konkurs, nachdem sie zuvor die Aktien der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik mit Billigung Steiners, aber gegen den Willen Molts an den Wiener Tabakgroßhändler Kiazim Emin verkauft hatte. Der wiederum musste die Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik 1929 an den Reemtsma-Konzern veräußern, der den einstigen Konkurrenten umgehend liquidierte.

Für die Schule in Stuttgart erwuchsen daraus allerdings keine negativen Konsequenzen, denn der Philanthrop Molt sicherte weiterhin unter Einsatz seiner persönlichen Finanzmittel den Bestand der Bildungseinrichtung, bis die Nationalsozialisten diese 1938 schlossen. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits acht weitere Waldorfschulen in Deutschland, so beispielsweise in Hamburg, Hannover, Berlin, Dresden und Breslau, die das gleiche Schicksal traf. Sie konnten aber sukzessive ab September 1945 wieder neu öffnen. Weitere Waldorfschulen kamen hinzu. Während es 1952 noch 24 derartige Schulen gab, zählte man 1989 bereits 114 Waldorfschulen, und heute existieren in der Bundesrepublik 245 davon. Dazu kommen reichlich 900 solcher Einrichtungen im Ausland, darunter in den USA, den Niederlanden, Großbritannien, Norwegen, der Schweiz, Österreich, Argentinien und sogar auch Russland. 

Dieser Siegeszug ändert aber nichts daran, dass renommierte Erziehungswissenschaftler den pädagogischen Konzepten der Waldorfschulen, die auf Steiners Anthroposophie basieren, höchst kritisch gegenüberstehen – und dabei geht es keineswegs nur um die „Eurythmie“, in deren Rahmen die Schüler lernen sollen, ihren Namen zu tanzen. Sehr viel mehr stören sich Experten wie beispielsweise Heiner Ullrich von der Universität Mainz an fehlenden Schulbüchern, intransparenten Lehrplänen, schwammigen verbalen Leistungsbewertungen an Stelle von Zeugnisnoten und unwissenschaftlichen Unterrichtsinhalten. Hierzu passen auch entsprechende Erfahrungsberichte, wie der einer ehemaligen Waldorf-Geschichtslehrerin, die erleben musste, dass sie in ihrem Fach eher Zwerge, Gnome und Atlantis behandeln sollte als reale historische Ereignisse. Des Weiteren stößt der von Steiner verordnete Rückgriff auf seine Lehre von der Existenz „übersinnlich wahrnehmbarer Wesensglieder“ des Menschen auf massive Ablehnung in der Fachwelt. Es gehe absolut nicht an, das Bildungspotenzial von Kindern an der Entwick­lung ihres „Äther-“ oder „Astral-Leibes“ und Ähnlichem festzumachen.