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13.09.19 / Zeugnisse in der Zwischenkriegszeit Geborener

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-19 vom 13. September 2019

Zeugnisse in der Zwischenkriegszeit Geborener
Dirk Klose

Wer in Deutschland kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren wurde und das Glück hatte, ein hohes Alter zu erreichen, hat extreme Wechsel von Auf und Ab erlebt. Die Entwicklung in Deutschland, so der deutsch-amerikanische Historiker Konrad H. Jarausch, „wurde stärker als die anderer Länder von überraschenden Brüchen, territorialen Veränderungen und politischen Systemwechseln durcheinandergebracht.“ 

Jarausch, der 1941 in Magdeburg geboren wurde, aber schon in jungen Jahren in die USA emigrierte und deren Bürger wurde, hat immer wieder auch an deutschen Universitäten unterrichtet. Die Geschichte seines Heimatlandes hat ihn nie losgelassen. Sein jüngstes Buch hat er den „Weimarer Kindern“ gewidmet, also den ab 1920 Geborenen mit ihrem Bemühen, „ein gewöhnliches Leben in außergewöhnlichen Zeiten“ zu führen. 

Es gibt mittlerweile unzählige Darstellungen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Jarausch hat einen höchst originellen Weg gewählt: Er hat über 

100 persönliche Lebenszeugnisse, die entweder als Erinnerungen vorliegen, im Deutschen Tagebuch-Archiv in Emmendingen und öffentlichen Archiven lagern, teils aber auch von privater Seite zur Verfügung gestellt wurden, ausgewertet und daraus „das Jahrhundert unserer Mütter und Väter“ – so der Untertitel seines Buches – geschildert.

Naheliegend wurde daraus dann vor allem eine Alltagsgeschichte mit all ihren Höhen und Tiefen. Grob unterteilt schälen sich vier große Empfindungen heraus: Die Weimarer Republik als relativ sorglose, glückliche Kindheit; die NS-Zeit von 1933 bis etwa 1941 als fast irrealer Überschwang; die Jahre ab Stalingrad bis etwa 1948 als Zeit tiefsten Elends, größter Not durch militärische Niederlage, Flucht und Vertreibung, Hungertod, Gefangenschaft und Vergewaltigung der Frauen, denen Jarausch ein eigenes Kapitel widmet; ab 1948/49 der beginnende Aufschwung hüben wie (langsamer) drüben mit wachsendem Gefühl von Sicherheit und Zufriedenheit. Gleichnishaft sieht der Autor Letzteres am Beispiel der Familie, die nicht mehr wie in den Notjahren eine „defensive Überlebensgemeinschaft“ war, sondern wieder zum „Mittelpunkt einer bereichernden persönlichen Existenz“ wurde.

Jarausch spürt mit großer Sensibilität aus den herangezogenen Dokumenten – es sind sowohl Zeugnisse bekannter Männer und Frauen als auch des unbekannten „kleinen Mannes“ (tatsächlich mehr Frauen als Männer!) – die Sorgen der Menschen, ihre Freude und Dankbarkeit, wenn Familienleben, Gesundheit und Beruf sich gut entwickelten, ihre Unsicherheit, wenn sich Katastrophen anbahnten, ihren Hilfeschrei und ihre Verzweiflung, wenn im Krieg, auf der Flucht oder im Bombenhagel Massenmord und Massensterben zum Alltag wurden. Und immer wieder nach 1945 die belastende Frage, wie es zur Ka-

tastrophe von Krieg und Zerstörung kommen konnte, worauf die meisten Schreiber – hier wird Jarausch vorsichtig zu deren Kritiker – eine exkulpierende Antwort geben, selten das Eingeständnis, mitschuldig geworden zu sein. 

Bei der Lektüre des sehr lesefreundlichen Buches macht die hohe Erwartung nach und nach einer gewissen Ernüchterung Platz. 

Zu Beginn hatte der Autor angekündigt, die Betroffenen selbst und „ausgiebig“ zu Wort kommen zu lassen. Immerhin nennt er mehr als 80 Zeitzeugen, davon einzelne mehr als 

80 mal, sodass sie dem Leser schon wie Vertraute vorkommen. Aber sie werden dann fast durchweg doch nur jeweils in ein oder zwei Sätzen, ja oft nur in Halbsätzen zitiert, was schade ist. Als Leser hätte man sich gewünscht (und nach dem Vorwort auch erwartet!), wenigstens einige Zeitzeugen etwas ausführlicher vor sich zu haben. Andernorts ist das schon mehrfach gemacht worden, also Darstellung und persönliche Zeugnisse, was zusammen sehr eindrucksvoll ist. So ahnt man meist nur, welch kluge Frauen und Männer sich erinnert haben und wie groß der Wunsch, ja der innere Drang war, sich schreibend über das eigene Leben Rechenschaft zu geben.  

Konrad H. Jarausch: „Zerrissene Leben. Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter“, wbg/Theiss Verlag, Darmstadt 2018, gebunden, 456 Seiten, 29,95 Euro