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20.09.19 / Brexit-Chaos wird immer größer / Welche Möglichkeiten das britische No-No-Deal-Gesetz Premier Boris Johnson noch lässt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-19 vom 20. September 2019

Brexit-Chaos wird immer größer
Welche Möglichkeiten das britische No-No-Deal-Gesetz Premier Boris Johnson noch lässt
Dieter Barbian

In Großbritannien blickt niemand mehr durch. Selbst die Parlamentarier wissen nicht, ob sie ihrer Arbeit nachgehen können oder nicht. Das Brexit-Chaos wird immer größer.

Als wäre die Lage nicht schon verworren genug, hat in der vergangenen Woche ein schottisches Berufungsgericht die chaotischen Zustände perfekt gemacht und die von Premierminister Boris Johnson auferlegte fünfwöchige Zwangspause des britischen Parlaments für unrechtmäßig erklärt. Da die Regierung in London umgehend Berufung einlegte, weiß niemand so recht, wie es weitergeht. 

Fest steht: Johnson, der Nachfolger von Theresa May in 10 Downing Street, hat zuletzt einige bittere Niederlagen kassiert. Zunächst war er zweimal mit einem Antrag auf Neuwahl gescheitert. Es gibt damit keine Möglichkeit mehr für eine vorgezogene Wahl vor dem geplanten Brexit-Datum am 31. Oktober. Die Abgeordneten hatten zudem im Eilverfahren ein sogenanntes No-No-Deal-Gesetz durch beide Kammern des Parlaments gebracht, das vorsieht, dass der Premierminister eine Verlängerung der Brexit-Frist beantragen muss, sollte bis zum 19. Oktober kein Austrittsabkommen ratifiziert sein. Johnson lehnt das vehement ab. 

Internationale Beobachter rätseln nun, welche Optionen dem Regierungschef bleiben. „Wie soll Johnson in nur fünf Wochen einen neuen Kompromiss mit der EU aushandeln? Seine Vorgängerin Theresa May hatte dafür rund zwei Jahre gebraucht“, fragte kürzlich das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Was das Blatt nicht erwähnte, ist die Tatsache, dass May zwar mit der EU eine Einigung erzielte, dabei aber stets am Parlament scheiterte. 

Hauptstreitpunkt ist die sogenannte Backstop-Klausel. Diese soll garantieren, dass keine harte Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem unabhängigen EU-Mitglied Irland gezogen wird und damit der Waffenstillstand gefährdet wird, der seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 gilt und den irischen Konflikt nach Jahrzehnten der Gewalt zur Ruhe brachte. Die radikalen Brexit-Befürworter um Johnson lehnen diese Klausel ab. Sie weigern sich, eine solche Notfallklausel in den Austrittsvertrag aufzunehmen. Zu sehr würde diese in ihren Augen Großbritanniens Souveränität einschränken. Der Backstop ließe dem Vereinigten Königreich nämlich nur die Wahl, entweder ein das Königreich teilendes internes Zollgrenzregime zu akzeptieren oder aber im EU-Binnenmarkt zu bleiben, sofern denn bis zum Ende der zweijährigen Übergangszeit keine technologischen Lösungen für die Grenze gefunden sind. Dass diese Punkte durch Nachverhandlungen mit Brüssel geändert werden können und dass sich dafür auch noch in der Kürze der Zeit eine Mehrheit im britischen Parlament findet, ist zu bezweifeln. 

Johnson hatte daher vehement für Neuwahlen plädiert. Damit wollte er die komplizierten Machtverhältnisse klären und mit einer komfortablen Mehrheit den Brexit durchziehen, notfalls auch ohne einen Vertrag mit der EU. Johnson hat seinen Anhängern versprochen, dass es mit ihm keinen Brexit-Aufschub geben werde. Das neue Gesetz scheint ihm jedoch jetzt die Hände zu binden. 

Die Tageszeitung „Telegraph“ schrieb, die Regierung trage sich mit dem Gedanken, bei der EU den ungeliebten Brexit-Aufschub in einer Weise zu beantragen, die zu einer formlosen Ablehnung führt. Oder Johnson finde einen Regierungschef eines EU-Mitgliedslandes, der ein Veto gegen den Antrag auf Verlängerung der Brexit-Frist einlegt. Die Chancen dafür scheinen nicht schlecht zu stehen. Denn es mehren sich die Stimmen, die lieber einen No-Deal-Brexit in Kauf nehmen als noch einmal zu verhandeln. So lehnt Frankreichs Außenminister Jean-Yves Le Drian einen Brexit-Aufschub unter den gegenwärtigen Umständen ab. „Beim jetzigen Stand der Dinge heißt es nein. Wir fangen nicht alle drei Monate wieder damit an.“ Großbritanniens Brexit-Minister Dominic Raab erklärte jedenfalls, man werde bis an die Grenzen ausloten, was das vorliegende Gesetz tatsächlich rechtlich verlangt. 

Möglicherweise wird Johnson aber auch zurücktreten und den oppositionellen Labours sowie abtrünnigen Tories die Regierungsgeschäfte überlassen und dabei zusehen, wie diese an einem Brexit-Abkommen scheitern. Spätere Neuwahlen würden ihm dann in die Karten spielen. 

Doch die Stimmung auf der Insel ist unübersichtlich. Derzeit führen die Tories klar in den Umfragen, während Labour zuletzt an Zustimmung verlor. Ob das auch für eine Mehrheit im Parlament reicht, ist angesichts des Mehrheitswahlrechts aber unklar. 

EU-Gegner Nigel Farage von der Brexit-Partei hat Johnson bereits eine Zusammenarbeit angeboten. Mit ganzseitigen Anzeigen in mehreren englischen Zeitungen hat Farage der Regierung ein Angebot unterbreitet, um ein Bündnis zu schmieden. „Mein Wahlangebot an Boris“ lautet die Überschrift einer Zeitungsanzeige von Farage: „Lass uns einen Brexit mit sauberem Schnitt haben, dann helfen wir dir, eine große Brexit-Mehrheit zu sichern und Corbyns Labour-Partei zu zerstören. Zusammen wären wir unaufhaltbar.“ Auch wenn es der neuen Brexit-Partei aufgrund des Mehrheitswahlrechts wohl schwerfallen würde, eine nennenswerte Anzahl an Parlamentssitzen zu erreichen, unterschätzen sollte man Farage nicht. Bei der EU-Wahl wurde er aus dem Stand mit 30 Prozent stärkste Kraft. Eine „Listenverbindung“ mit Johnsons Tories – und die Karten bei möglichen Neuwahlen würden völlig neu gemischt.