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20.09.19 / Der aus der Reihe tanzt / Ballett-Ikone Rudolf Nurejew im Kino – Dramatisches Aussitzen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-19 vom 20. September 2019

Der aus der Reihe tanzt
Ballett-Ikone Rudolf Nurejew im Kino – Dramatisches Aussitzen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges
Harald Tews

Wenn Ballettliebhaber den Na­men Rudolf Nurejew hören, be­kommen sie glänzende Augen. Er war einer ersten männlichen Ballettstars überhaupt und für die Russen eine tänzerische Propagandawaffe des Kalten Krieges.

Bloß gut, dass Ralph Fiennes sich eingemischt hat. Der britische Hauptdarsteller von Stephen Spielbergs Holocaustdrama „Schindlers Liste“ führte bei dem am 26. September in den deutschen Kinos startenden Nurejew-Film „The White Crow“ (Die weiße Krähe) nicht nur zum dritten Mal selber Regie, nein, er spielt sogar selbst mit. Keine Sorge: Er tanzt nicht. Fiennes bringt als väterlicher-bedächtiger Ballettmeister am Choreografischen Institut Leningrad seinem Schüler Nurejew das Tanzen bei.

Der alte Filmhase stiehlt dem Jungen damit beinahe die Show. Denn mit dem Ukrainer Oleg Iwenko hat Fiennes zwar einen ausgewiesenen Profitänzer in der Rolle des Rudolf Nurejew besetzt, aber eben keinen Profischauspieler. Für den in Russland im Opernhaus von Kasan als Solotänzer auftretenden Iwenko ist es sein Kinodebüt. Und dann gleich als Nurejew, der männlichen Ballett-Ikone schlechthin. Kann das gutgehen?

Fiennes hat viel riskiert, aber es hat sich gelohnt. Sein Nurejew-Film ist nicht allein ein Stück routiniert abgefilmte Biografie des berühmten Tänzers, sondern auch ein Lehrstück über den Kalten Krieg.

Mit fast schon brutaler Konsequenz läuft der Film auf ein dramatisches Finale hinaus, auf jenen Augenblick, als Nurejew aus der Reihe tanzt. Es klingt dramatischer, als es ist. Hier wird nicht geschossen, es finden keine wilden Verfolgungsjagden statt und zu Schaden kommt auch niemand. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Alles sitzt und wartet gespannt, dass etwas passiert. 

Im Terminal des Pariser Flughafens Le Bourget sieht man einen von KGB-Leuten umringten Nurejew, dem der Angstschweiß herunterläuft. Statt mit dem Ensemble des Kirow-Balletts nach London weiterzufliegen, soll er als einziger nach Moskau zurückkehren. Einen Moment der Unaufmerksamkeit seiner Bewacher nutzt er, um bei der Flughafenpolizei das Zauberwort „Asyl“ auszusprechen. Ende. Aus. Abspann.

Fiennes holte als Drehbuchautor den renommierten Dramatiker David Hare mit ins Boot. Der Autor, der schon die Skripte zu der Verfilmung von Bernhard Schlinks Bestseller „Der Vorleser“ oder zu „Verleugnung“ über einen Prozess gegen den Holocaust-Leugner David Irving geschrieben hat, schuf ein raffiniertes Aussitzen des Ballettstars vor der mit ausgebleichten Brauntönen kolorierten Kulisse des Kalten Krieges.

Anhänger Nurejews dürften mehr erwartet haben über sein Leben und Tanz. Beides wird nicht vernachlässigt, steht aber nicht im Fokus. So wird in kurzen Rückblenden erzählt, wie Nurejew kurz vor Irkutsk in der Transsibirischen Eisenbahn geboren wurde, wie er nach dem Besuch einer Ballettaufführung seine Leidenschaft für den Tanz entwickelte, wie seine warmherzige Mutter ihn förderte, während sein Vater ihn mit Schlägen davon abhalten wollte, und wie er in seiner Heimat als Synonym für einen Außenseiter „weiße Krähe“ ge­nannt wurde.

Eigentlich erzählt der Film nur die Spanne zwischen 1955, als Nurejew mit 17 Jahren als ältester Neuling in die Klasse des von Fiennes gespielten legendären Ballettmeisters Alexander Puschkin kommt, und 1961, als er am Flughafen von Paris einen Asylantrag stellt. Obwohl dieser Nurejew vom Solotänzer Iwenko verkörpert wird, schwelgt der Film nicht in längeren musikalischen Ausschnitten aus Balletten wie „Schwanensee“. Ein Paar Pirouetten, die zeigen sollen, wie Nurejew das Ballett revolutionierte, indem er jenes solistisch umsetzte, was zuvor nur den Balletteusen vorbehalten blieb – das war es dann schon an Tanzeinlagen.

Dass Nurejew bisexuell war mit einer Vorliebe für Männer und 1993 an Aids starb, wird ebenso wenig an die große Glocke ge­hängt. Am Rande taucht der vom deutschen Schauspieler Louis Hofmann gespielte Tänzer Teja Kremke auf, mit dem sich Nurejew ein Zimmer teilt. Größeren Raum nimmt dagegen die hübsche Chilenin Clara Saint ein. Nurejews Verhältnis zu der Freundin des bei einem Verkehrsunfall getöteten Sohns des französischen Kulturministers und Schriftstellers André Malraux bleibt bewusst im Unklaren. Dieses spielt keine Rolle, dafür aber umso mehr ihre finale Rolle bei seinem Asylantrag.

Nicht aus Liebe zu bestimmten Menschen, sondern zu der westlichen Kultur habe der an Politik uninteressierte Nurejew die Seiten gewechselt, so die Botschaft des Films. Der Tänzer war der Star des zu Propagandazwecken im Westen auf Auslandstournee eingesetzten Kirow-Balletts. Entsprechend scharf stand er unter Beobachtung des KGB, entzog sich aber häufig seinen Bewachern, um zum Beispiel früh morgens im Louvre allein Théodore Géricaults Meistergemälde „Floß der Medusa“ zu bewundern.

Um den Film so authentisch wie möglich zu gestalten, besetzte Fiennes die Rollen mit Schauspielern aus den jeweiligen Ländern. Mit einer Ausnahme: er selbst als bedächtig russisch parlierender Puschkin. Da die Geldgeber des Films darauf bestanden, dass wenigstens ein Star mitspielt, wenn schon das Russische nicht synchronisiert, sondern nur mit Untertiteln übersetzt wird, so übernahm Fiennes gleich die Doppelaufgabe als Regisseur und Schauspieler.

An sein minimalistisches Spiel kommt keiner heran. Auch Hauptdarsteller Iwenko nicht. Da dieser aber über genügend Bühnenerfahrung als Tänzer verfügt, macht er bei seinem Filmdebüt eine ganz anständige Figur. Er versucht gar nicht erst, Nurejew nachzuäffen. Gut so, sonst hätte er sich garantiert aussichtslos ins Abseits getanzt.