23.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
20.09.19 / Ein Fall für den Psychiater / Der »Struwwelpeter« machte eine beispiellose Karriere – Sein Autor Heinrich Hoffmann geriet dagegen in Vergessenheit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-19 vom 20. September 2019

Ein Fall für den Psychiater
Der »Struwwelpeter« machte eine beispiellose Karriere – Sein Autor Heinrich Hoffmann geriet dagegen in Vergessenheit
Dagmar Jestrzemski

Heute geben Eltern ihren Kindern den „Struwwelpeter“ nicht zum Lesen. Zu grausam, heißt es. Im 19. Jahrhundert hielt man das Buch für pädagogisch wertvoll. Es war das erfolgreichste Werk des vor 125 Jahren gestorbenen Seelenarztes Heinrich Hoffmann.

Einen spezifischen Seltenheitswert in der Literaturgeschichte hat der „Struwwelpeter“. Obwohl die lustige Figur aus dem gleichnamigen Bilderbuch der Biedermeierzeit einen weltweiten Siegeszug antrat, blieb ihr „Erfinder“ Heinrich Hoffmann als Schriftsteller weitgehend unbekannt. Auch hatte er mit seinen weiteren Kinderbüchern keinen auch nur annähernd vergleichbaren Erfolg. Nur um des Struwwelpeters willen erinnert man sich heute noch an den Frankfurter Arzt, Anatom, Pathologen und Psychiater Heinrich Hoffmann, der vor 125 Jahren in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main starb. 

In den Annalen der Stadt ist er verzeichnet als engagierter Arzt und Leiter einer nach damaligem Maßstab modernen psychiatrischen Klinik. Bei der Versorgung psychisch kranker Menschen folgte er einem humanen Leitbild. 

Es war kurz vor Weihnachten 1844, als Hoffmann in den Frankfurter Buchhandlungen nach einem Bilderbuch als Ge­schenk für seinen dreijährigen Sohn Carl Philipp Ausschau hielt. Da er keines fand, das seinen Vorstellungen entsprach, kaufte er ein leeres Schreibheft und füllte die Seiten mit einigen selbst ausgedachten, illustrierten Ge­schichten. 

An Übung und Phantasie fehlte es ihm als Gelegenheitsschriftsteller nicht. Er konnte auf grotesk-komische Bildergeschichten aus seinem Fundus als Arzt zurückgreifen, welche ihm während der Untersuchung von zappelnden, schreienden kleinen Patienten als Mittel zur Ablenkung dienten. 

Kinderbücher ohne Belehrungen waren seinerzeit eine Ausnahme. So handeln die Geschichten des „Struwwelpeter“ von Kindern, die ein auffälliges oder tadelnswürdiges Verhalten an den Tag legen und sich dadurch mitunter selbst in Gefahr bringen. Dementsprechend haben sie zu­meist keinen guten Ausgang. Dass solche Horror- und Gruselwirkung Verstand und Gemüt eines Dreijährigen deutlich überfordert – dieser Ge­danke kam dem Seelenarzt wohl nicht angeflogen. Einige Jahrzehnte später hat man diese Art der Kinderunterhaltung denn auch als verfehlt kritisiert und einer veralteten Erziehungsmethode zugeschrieben. 

Der Faszination des Bilderbuchs tat die von der reformerischen Pädagogik ausgehende ne­gative Wertung bis zum heutigen Tag keinen Abbruch. Jedoch wurde der „Struwwelpeter“ nicht mehr wie früher als Haus- und Erziehungsbuch angesehen. In­zwischen deutet man Hoffmanns Struwwelpeter-Typen als Erstbeschreibung des Hyperkinetischen Syndroms, auch als Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) bezeichnet. 

Auch Erwachsene fanden seinerzeit Gefallen an den originellen Zeichnungen und Reimversen des „Struwwelpeter“, nämlich Hoffmanns Freunde vom Kultur-Verein „Gesellschaft der Tutti Frutti“, den er selbst gegründet hatte. Sie überredeten ihn, seine Bilderhandschrift drucken zu lassen. Dem Verleger Zacharias Löwenthal überließ er daraufhin sein Manuskript mit den Worten: „Meinetwegen. Geben Sie mir 

80 Gulden und versuchen Sie ihr Glück!“ Hoffmann hatte sich mit mäßigem Erfolg als Komödienschriftsteller betätigt und schuldete Löwenthal noch 80 Gulden. 

Ergänzt um vier weitere Bildergeschichten – damit waren es insgesamt zehn –, erschien vor Weihnachten 1845 unter dem Pseudonym Reimerich Kinderlieb die erste Ausgabe von „Lustige Geschichten und drollige Bilder mit 15 schön kolorierten Tafeln für Kinder von 3 bis 6 Jahren“. Innerhalb von vier Wochen waren 1500 Exemplare verkauft. 

Ab der fünften Auflage wurde der Struwwelpeter zur titelgebenden Figur des Buches, da er bei den Kindern den stärksten Eindruck hinterließ. In seinen Le­benserinnerungen notierte der Autor: „Und der Struwwelpeter betrat die Bühne der jugendlichen Welt. Der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen, und die bösen Buben sind weiter auf der Erde herumgekommen als ich.“ 

Hoffmann wurde am 13. Juni 1809 als Sohn eines Frankfurter Architekten und Städtischen Wasser- und Brückenbauinspektors geboren. Nach seinem Schulabschluss nahm er 1829 das Medizinstudium in Frankfurt am Main auf, das er ab 1832 in Halle an einer Klinik fortsetzte. 1833 wurde er zum Doktor promoviert. Zurück in Frankfurt, erhielt Hoffmann seine erste An­stellung in einem Leichenhaus in Sachsenhausen. In dem Ort eröffnete er eine eigene Praxis. Beruflich wie privat schloss er sich einem Kreis wohltätiger Ärzte an, die eine Armenklinik in der Meisengasse gegründet hatten. 1840 heiratete er Therese Donner und bekam mit ihr drei Kinder. Der mit dem Ur-„Struwwelpeter“ beschenkte Sohn Carl Philipp starb 1868 mit 27 Jahren in Lima/Peru am Gelbfieber.

An der Senckenbergischen Anatomie erteilte Hoffmann von 1845 bis 1851 Unterricht für Chi­rurgen und Lehrer. Er war Mitglied des Vorparlaments von 1848 und Initiator des Bürgervereins der Frankfurter Nationalversam­mlung. 1851 wurde ihm die Leitung der „Anstalt für Irre und Epileptische“ übertragen, im Volksmund „Irrenschlösschen“ ge­nannt. Die dort herrschenden Verhältnisse bezeichnete er als unerträglich. Mit dem Architekten Oskar Pichler reiste er durch Deutschland und mehrere andere Länder, „um die bewährtesten Irrenanstalten kennen zu lernen“. 

Mit Spendengeldern und städtischen Mitteln wurde ein Neubau der „Anstalt für Irre und Epileptische“ auf dem „Affensteiner Feld“ (eigentlich Ave-Maria-Stein-Feld) im damals noch nahezu unbebauten Westend geplant und bis 1864 fertiggestellt. Hoffmann wohnte mit seiner Familie und einigen Wärtern in der neuen Anstalt, die er bis 1888 leitete. Er starb am 20. September 1894 in Frankfurt. 

Das 1977 eröffnete Frankfurter Struwwelpeter-Museum ist im August in die neue Frankfurter Altstadt in das Haus „Alter Esslinger“, Hinter den Lämmchen 4, umgezogen. Bleibt noch zu be­merken, dass kein anderes Kinderbuch so viele Parodien provoziert hat wie der Struwwelpeter. Auch sie sind im Museum ausgestellt.