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27.09.19 / Was verschweigen uns Esten und Schweden? / Der »Estonia«-Untergang war das schwerste Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte – und auch das mysteriöseste

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-19 vom 27. September 2019

Was verschweigen uns Esten und Schweden?
Der »Estonia«-Untergang war das schwerste Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte – und auch das mysteriöseste
Wolfgang Kaufmann

Am 28. September 1994 sank die estnische Passagier- und Frachtfähre „Estonia“ auf halbem Wege von Reval (Tallinn) nach Stock­holm. Dabei starben 852 Menschen aus 17 Ländern, darunter fünf Deutsche. Über die Ursachen der Katastrophe wird bis heute gerätselt und gestritten.

Das Verhängnis nahm seinen Lauf, als die Tanzgruppe „Pantera“ gerade den zweiten Teil ihrer Show im „Estonia“-Nachtclub eröffnete. Die Bühne begann derart zu schwanken, dass eine der Akteurinnen ins Schlagzeug torkelte. Kurz darauf – gegen 1.15 Uhr – krachte es gewaltig und die Fähre kippte innerhalb weniger Minuten auf die rechte Seite. Um 1.22 Uhr ertönte der erste Notruf des Schiffes, bevor sieben Minuten später der Funkverkehr abriss. Etwa 1.30 Uhr verschwand die „Estonia“ dann auch von sämtlichen Radarschirmen. 

Der erste Helfer vor Ort, die finnische Fähre „Mariella“, erreichte die Unglücksstelle rund eine Stunde später. Dort herrschte inzwischen Windstärke 9 und die Wellen gingen bis zu zehn Meter hoch, was die Bergung der Schiffbrüchigen aus dem 13 Grad kalten Wasser der Ostsee und den herumtreibenden Rettungsinseln extrem erschwerte. Deshalb überlebten lediglich 137 Passagiere und Besatzungsmitglieder der „Estonia“ das Unglück. Weitere 94 konnten bloß noch tot aus dem Meer gezogen werden. Der Rest hatte geschlafen und es gar nicht erst geschafft, aus dem gekenterten Schiff herauszukommen und sank mit diesem rund 80 Meter auf den Meeresgrund vor der kleinen finnischen Insel Utö.

Unmittelbar nach dem Untergang der „Estonia“ bildeten die Regierungen Finnlands, Schwedens und Estlands eine Untersuchungskommission namens Joint Accident Investigation Commission (JAIC). 1997 legte sie ihren Abschlussbericht vor. Darin hieß es, die Verriegelung der 55 Tonnen schweren Bugklappe sei zu schwach gewesen und daher im Sturm gebrochen. Das habe zum Eintritt größerer Mengen von Wasser in den Frachtraum mit den dortigen 40 Lastern und 34 Personenwagen geführt. Somit stand nun die Meyer-Werft im niedersächsischen Papenburg, auf der das Schiff gebaut worden war, als der Schuldige an dem Unglück da. 

Das wurde allerdings bald durch die Ergebnisse weiterer Nachforschungen relativiert. So ergab das Gutachten einer von der Meyer-Werft beauftragten Expertengruppe, dass die Bugklappe abgesprengt worden sei. Dem widersprach dann aber wiederum die Einschätzung der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung, nach der die Veränderungen in der Metallstruktur der Klappenscharniere nicht aus einer Detonation resultieren, sondern auf Korrosionsschutzmaßnahmen zurückzuführen seien. Das bewog die Hamburger Staatsanwaltschaft zur Einstellung ihres Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts eines Terroranschlages.

2006/07 wiederum simulierten Experten der Hamburgischen Schiffbau-Versuchsanstalt und der Technischen Universität Hamburg-Harburg den Untergang des Schiffes mit einem ausgefeilten Computer-Programm. Dabei ergab sich, dass der Erste Kapitän Arvo Andresson zunächst eine für die Wetterverhältnisse viel zu hohe Geschwindigkeit gewählt und dann ein zum Kentern führendes falsches Wendemanöver befohlen hatte. Ebenso scheint die Bugklappe beim Losfahren nicht vollständig geschlossen worden zu sein. Deswegen riss sie aufgrund des starken Wellenschlages letztlich ab – menschliches Versagen also. Das korrespondiert mit Berichten über erhebliche Undichtigkeiten an der Klappe, derer die Mannschaft mit Matratzen und Decken Herr zu werden suchte.

Doch damit wollten die Gerüchte über eine vorsätzliche Versenkung der „Estonia“ nicht enden. Verantwortlich hierfür waren unter anderem Experten, die auf den Videoaufnahmen des Tauchroboters, der das Wrack inspiziert hatte, mehrere mysteriöse Löcher im Rumpf des Wracks und Überreste von Sprengsätzen gesehen haben wollten. Dazu kam dann 1996 noch der „Felix-Report“, der angeblich von Veteranen des vormaligen sowjetischen Auslandsgeheimdienstes KGB stammte. Darin hieß es, der bei der Ka­ta­stro­phe ertrunkene und für die estnische Mafia tätige Kapitän Andresson habe die Bugklappe öffnen lassen, um zwei Lastkraftwagen voller Schmuggelware – Heroin und Kobalt – im Meer verschwinden zu lassen. Grund für die selbstmörderische Aktion seien telefonische Warnungen seiner Hintermänner gewesen, dass der Zoll in Stock­holm einen Tipp von der Konkurrenz bekommen habe und darauf warte, die „Estonia“ von oben bis unten zu durchsuchen. 

Das klingt höchst abenteuerlich, aber eines steht seit Ende 2006 fest: Heiße Ware hatte die „Estonia“ geladen. Allerdings handelte es sich dabei um illegal beschaffte militärische Güter aus dem Besitz der russischen Armee, wie der ehemalige estnische Außenminister Trivimi Velliste vor einem Untersuchungsausschuss des Parlaments in Reval zugab. In diesem Zusammenhang erwähnte Velliste, der auch der trilateralen „Estonia“-Untersuchungskommission JAIC angehört hatte, den seinerzeitigen estnischen Ministerpräsidenten Mart Laar, der zum Kreis der Personen gehöre, welche die Verschiebung des Kriegsmaterials nach Schweden angewiesen oder genehmigt hätten.

Das wäre eine Erklärung für diverse Aktionen der Regierungen in Reval und Stockholm, die wie Vertuschungsversuche anmuten. Darunter fällt das Bestreben, das Wrack hastig unter ins Meer gekipptem Geröll und Schutt zu begraben und dann später gar noch einen Beton-Sarkophag à la Tschernobyl darüber zu errichten. Gleichfalls sei an das zeitlich unbegrenzte Tauchverbot an der Unglücksstelle erinnert, das mit Sicherheit nicht nur dem Schutz der Totenruhe dienen soll. Außerdem erscheint so nun auch das Rätsel um den Zweiten Kapitän Avo Piht, den Leitenden Ingenieur Lembit Leiger und sechs weitere Besatzungsmitglieder der „Estonia“ in einem neuen Licht. Die Acht wurden von mehreren unterschiedlichen Zeugen unter den Geretteten an Land gesichtet – später standen sie dann allerdings allesamt auf der Liste der Ertrunkenen. Wurden Sie eliminiert, weil sie zu viel wussten?

Auf jeden Fall ist der Untergang der „Estonia“ bisher in keiner Weise befriedigend aufgeklärt worden. Aber die Hoffnung bleibt, dass sich das durchaus noch ändert – durch neue Ermittlungstechniken oder späte Aussagen von Beteiligten, die sachdienliche Hinweise geben können.