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27.09.19 / Für manche eine »Umgründung der Republik« / Der einschneidende Wechsel nach der Bundestagswahl vom 28. September 1969 war nicht alternativlos

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-19 vom 27. September 2019

Für manche eine »Umgründung der Republik«
Der einschneidende Wechsel nach der Bundestagswahl vom 28. September 1969 war nicht alternativlos
Erik Lommatzsch

Seit 1949 hatte die CDU die Regierung der Bundesrepublik Deutschland geführt. Ihre politischen Linien, eng verbunden mit dem Namen Konrad Adenauer, waren prägend für die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte. Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 28. September 1969 schien zunächst keine Zweifel daran zu lassen, dass die Christdemokraten abermals das Kanzleramt verteidigt hatten. Doch es sollte anders kommen.

Als strahlender Sieger gab sich am Wahlabend Kurt Georg Kiesinger. Seit drei Jahren stand der CDU-Politiker an der Spitze einer Großen Koalition. Trotz leichter Verluste von eineinhalb Punkten konnte die Union mit 46,1 Prozent eindeutig das beste Ergebnis vorweisen. Die Freude der SPD über die hinzugewonnenen knapp dreieinhalb Punkte, mit denen sie auf 42,7 Prozent gekommen war, hielt sich dagegen in Grenzen. Die von den Sozialdemokraten als künftiger Koalitionspartner ins Auge gefasste FDP hatte mit 3,7 Punkten erheblich verloren. Sie war mit 5,8 Prozent sogar nahe an die Grenze eines Nichteinzugs in den Bundestag gekommen. 

Kiesinger, zusätzlich beflügelt durch erste Hochrechnungen, die der Union eine absolute Mehrheit vorausgesagt hatten, und Glückwunschtelegramme, etwa des US-amerikanischen Präsidenten Richard Nixon, bot bereits in der Nacht Parteifreunden Ressorts seines künftigen Kabinetts an. Dass FDP und SPD zusammen über mehr Abgeordnete verfügten als die Union – im Endergebnis handelte es sich abzüglich der nicht stimmberechtigten Berliner um einen Vorsprung von einem Dutzend Sitzen – sah der Kanzler durchaus. Er sagte jedoch unmittelbar nach der Wahl, dass er eine derartige Koalition lediglich „rechnerisch, aber nicht politisch“ für möglich halte.

Kiesinger, der sich durch das Wahlergebnis zum sechsten Bundestag bestätigt sah, glaubte, nun die Wahl zu haben, entweder die Große Koalition mit der SPD fortzusetzen oder zu einer christlich-liberalen Koalition wie zu Zeiten seiner Vorgänger Erhard und Adenauer zurückzukehren. Die FDP-Stimmen, die ein Bündnis mit der SPD anstrebten, hielt man in der Union für nicht ausreichend, um erstmals einem sozialdemokratischen Kanzler zur Mehrheit zu verhelfen. Helmut Kohl, seit Kurzem CDU-Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, der gute Beziehungen zur FDP pflegte, signalisierte im Namen der Union dem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher, dass man zur Koalition bereit sei. Zwei Tage nach der Wahl suchten Kohl und der CDU-Generalsekretär Bruno Heck zudem den FDP-Politiker Erich Mende in dessen Haus auf, in dem sich zugleich mehrere Unions-geneigte FDP-Abgeordnete eingefunden hatten. Am 1. Oktober traf Kiesinger den FDP-Vorsitzenden Walter Scheel, den großen Verlierer der Bundestagswahl, um ihm eine Zusammenarbeit anzubieten. Die Richtung schien klar. 

Maßgebliche Liberale, zu denen Scheel zählte, hatten den Gedanken einer Koalition mit der SPD jedoch keineswegs ad acta gelegt. Hinzu kam, dass man seitens der FDP der Union misstraute, die sich trotz aller Angebote wenig eindeutig verhielt, sich immer noch die Möglichkeit der Fortsetzung der Großen Koalition offenhielt und die FDP nicht nur umwarb, sondern ihr auch drohte, indem sie andeutete, abermals die Möglichkeit der Einführung eines Mehrheitswahlrechts aufs Tableau zu bringen. Dies wäre der politischen Vernichtung der Freidemokraten gleichgekommen.

Wie in der FDP gab es auch in der SPD namhafte Politiker, die nicht an einer sozial-liberalen Koalition interessiert waren, da sie befürchteten, sich in einer solchen zu stark in liberales Fahrwasser begeben zu müssen. Herbert Wehner, unter Kiesinger Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen und maßgeblicher Architekt der Großen Koalition von 1966, plädierte für deren Fortsetzung, ebenso der Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt.

In dieser Situation handelte Willy Brandt, unter Kiesinger Außenminister und im September 1969 zum dritten Mal in Folge Kanzlerkandidat der SPD. Während die Union die Dinge noch in der Schwebe hielt, verständigte er sich konkret mit der FDP. Bereits am 3. Oktober wurde eine Koalitionsvereinbarung getroffen. Scheel, der dann unter Bundeskanzler Brandt Außenminister werden sollte, neigte ohnehin zur SPD. Die Liberalen, die soeben noch Gegner eines solchen Bündnisses gewesen waren, stellten sich ihm, angesichts quasi vollendeter Tatsachen, zumindest nicht in den Weg. Mit dem Vorgehen Brandts hatte kaum jemand gerechnet. Er galt als „unentschlossen und phlegmatisch“, in „der Öffentlichkeit erschien er hölzern, schwerfällig und ohne Charisma“, wie der Historiker Manfred Görtemaker schreibt.

Einerseits war der Wechsel in der Führung der Regierung im Herbst 1969 für eine große Anzahl von Zeitgenossen einschließlich vieler unmittelbar Beteiligter überraschend. Andererseits ging ihm eine Reihe von Entwicklungen voraus, die zwar nicht zwangsläufig auf eine sozial-liberale Koalition hätten hinauslaufen müssen, allerdings darauf hindeuteten, dass der Status quo als unbefriedigend empfunden wurde. Die Große Koalition hatte man von Anfang an weitgehend als Übergangslösung zur Überwindung der – vor allem wirtschaftlichen – Schwierigkeiten angesehen. Das Fehlen einer wirklichen Opposition – zwischen 1966 und 1969 war dies im Bundestag allein die FDP – wurde als Manko empfunden. Die Ursachen für das Entstehen der sogenannten Außerparlamentarischen Opposition oder die mit dem Stichwort „1968“ verbundene Studentenbewegung sind auch hier zu finden. Mit der Unterstützung des SPD-Kandidaten Gustav Heinemann bei der Wahl zum Bundespräsidenten im März 1969 hatte die FDP signalisiert, dass sie sich ein Zusammengehen mit den Sozialdemokraten auf Bundesebene vorstellen konnte.

Brandt, welcher der FDP trotz ihres schwachen Ergebnisses gleich zwei prestigeträchtige Ressorts – Auswärtiges Amt und Inneres – sowie das Landwirtschaftsministerium überließ, wurde am 21. Oktober 1969 mit äußerst knapper Mehrheit zum Bundeskanzler gewählt, wobei ihm Stimmen aus der eigenen Koalition fehlten. Aus seiner eine Woche später abgegebenen Regierungserklärung ist vor allem ein Diktum im Gedächtnis geblieben: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“ Von Zukunftsgestaltung und technokratischer Machbarkeit sprach Brandt. Viele damit geweckte Hoffnungen wurden später enttäuscht. Im Gegensatz zur Vorgängerregierung wurde unter Brandt die „Ostpolitik“ im Sinne einer Annäherung vorangetrieben, was zu einer Reihe von Verträgen führte. Die DDR wurde zwar nicht völkerrechtlich anerkannt, der neue Bundeskanzler formulierte aber, dass „zwei Staaten in Deutschland existieren“. Die Oder-Neiße-Linie akzeptierte man faktisch als Westgrenze Polens. Brandts Politik war umstritten, sowohl aus der eigenen Partei als auch aus der FDP gab es Übertritte zur Union. 

Die Bundestagswahl von 1969 gilt als tiefer Einschnitt, nicht zuletzt im gesellschaftlichen Bereich. Als Symbol wirkte Brandt. Der Exilant in der Zeit der NS-Herrschaft bildete auch biografisch das Gegenstück zum einstigen NSDAP-Mitglied Kiesinger, der als Relikt der Ära Adenauer angesehen wurde. Ob man – im Rückblick – die Zäsur des Regierungswechsels bereits als „Umgründung der Republik“ verstehen muss, wie es der Historiker Görtemaker tut, sei dahingestellt.