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27.09.19 / Die Panik eines einsamen Grenzschützers

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-19 vom 27. September 2019

Die Panik eines einsamen Grenzschützers
Dirk Klose

Extremsituationen provozieren beim Menschen ganz unterschiedliche Reaktionen; sie reichen von höchster Besonnenheit und Gedankenschärfe bis zu Apathie und Panik. Der österreichische Schriftsteller Gerhard Jäger zeigt all diese Reaktionen an einem einzigen Menschen. In seinem Roman „All die Nacht über uns“ erlebt der Leser einen Soldaten, der in einer sturmdurchtosten Nacht auf einem Wachturm nahe einer mit Stacheldraht gesicherten Grenze zwölf Stunden lang Wache schiebt. Sein Befehl lautet, notfalls mit der Waffe illegale Grenzübertritte zu verhindern.

Der Mann tritt seinen Dienst gegen 19 Uhr an. Per Funk ist er mit seiner Einheit verbunden. Aber bald entwickelt sich in der unheimlichen Stille, die durch ein extremes Unwetter abgelöst wird, das Geschehen nach ganz eigenen Gesetzen. Der Mann fühlt sich auf sich selbst zurückgeworfen und verliert nach und nach den Halt an seiner militärischen Ordnung. Immer intensiver drängen sich Bilder der Vergangenheit auf, zumal die Erinnerungen an eine anfangs glückliche, dann in einer Katastrophe endenden Ehe, was die Gedanken zum Rasen bringt und zu der Überlegung führt, etwas Verrücktes zu tun, „was vielleicht viel vernünftiger ist als das sogenannte Normale, wo doch das Leben selbst schon längst verrückt geworden ist.“

Einen Schuss Realität, ja eine extreme Realität, bringt der Autor mit eingefügten authentischen Erinnerungen einer damals jungen Frau an die Flucht der Deutschen im März 1945 aus Hinterpommern. Der Soldat liest sie in einem immer bei sich geführten Tagebuch seiner Großmutter. Die junge Frau versucht, schreibend ihre traumatischen Erinnerungen an Leid und Tod von Freunden und Bekannten einzudämmen „Nein, kein Deutscher hatte die Vorstellung, dass ein verlorener Krieg 16 Millionen Deutsche die Heimat kosten würde“. Den einsamen Mann auf dem Wachtturm treibt es zu panikartigen Attacken, letztlich behält er sich aber doch unter Kontrolle.

Am Ende, als die letzten zwei Stunden schier endlos lang werden, erwacht in ihm der Wunsch, alles Bisherige fahren zu lassen und irgendwo ganz neu anzufangen. Auf diese Weise löst er sich auch von den strengen Bestimmungen, die für den Wachdienst an der Grenze gelten – man kann vermuten, dass es eine stark gesicherte Grenze gegen Immigrantenströme aus dem Nahen Osten ist. Einen Flüchtling mit Kind, der das Stacheldraht-hindernis überwunden hat, lässt er laufen.

Jäger schafft es, die im Grunde monotone Situation bis zum Schluss spannend zu halten. Das geschieht durch sensibles Einfühlungsvermögen in menschliche Verhaltensweisen, die hier beispielhaft in ihrer ganzen Breite ausgelotet werden. Der „Hilfestellung“ durch authentische Zeugnisse der Flucht 1945 hätte es eigentlich nicht bedurft, die fiktive Erzählung steht für sich. 

Gerhard Jäger: „All die Nacht über uns“, Roman. Picus Verlag, Wien 2018, gebunden, 240 Seiten, 22 Euro