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04.10.19 / Deutschlands erste Partei- und Fraktionsvorsitzende / Vor 50 Jahren starb Helene Wessel – Die »Mutter des Grundgesetzes« gehörte nacheinander dem Zentrum, der GVP und der SPD an

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-19 vom 04. Oktober 2019

Deutschlands erste Partei- und Fraktionsvorsitzende
Vor 50 Jahren starb Helene Wessel – Die »Mutter des Grundgesetzes« gehörte nacheinander dem Zentrum, der GVP und der SPD an
Erik Lommatzsch

Als eine von nur vier Frauen im Parlamentarischen Rat war sie eine der wenigen „Mütter des Grundgesetzes“. Sie führte als erste Frau in Deutschland eine Partei und eine Fraktion. Mit ihren Überzeugungen haderte Helene Wessel nicht. Auch dies hatte zur Folge, dass die Politikerin im Laufe ihres Lebens drei Parteien angehörte.

Geboren wurde Helene Wessel am 6. Juli 1898 im später nach Dortmund eingemeindeten Hörde. Von Beginn an war die Orientierung am Katholischen maßgeblich für sie, dies sollte ein Leben lang so bleiben. Schon ihr Vater, der als Lokomotivführer 1905 tödlich verunglückte, war Mitglied der Zentrumspartei. Wessel wurde nach der Handelsschule Sekretärin im Landesbüro Westfalen des Zentrums, 1919 trat sie dann auch selbst der Partei bei.

Um Jugend- und Wirtschaftsfürsorgerin zu werden, besuchte sie die „Wohlfahrtsschule Münster“. Die notwendigen Mittel brachte sie auf, indem sie ihre langjährig zusammengetragene Briefmarkensammlung opferte. 

1928 erhielt Wessel, als jüngste Frau unter den Abgebordneten, ein Mandat im Preußischen Landtag. Vor allem die Sozialpolitik wurde hier ihr Feld. An der „Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“ in Berlin qualifizierte sie sich abermals.

Die Idee eines „Bewahrungsgesetzes“, das die zwangsweise Unterbringung von „Asozialen“ vorsah und letztendlich nie erlassen wurde, unterstütze sie, ebenso entsprechende Zwangssterilisationen. Hier finden sich Schnittmengen mit nationalsozialistischem Gedankengut, was ihr auch später immer wieder vorgeworfen wurde.

Ansonsten betrachteten die NS-Machthaber Wessel als politisch unzuverlässig. Bei der Abstimmung über das „Ermächtigungsgesetz“ im Preußischen Landtag hatte sie sich – nach eigenen Angaben – der Stimme enthalten. Während der NS-Zeit arbeitete sie in der Krankenhausverwaltung, übernahm ein Forschungsprojekt und bekleidete ab 1939 eine leitende Stellung bei der „Zentrale des katholischen Fürsorgevereins“ in Dortmund. Sie selbst erklärte später: „Ich habe mich sehr unsichtbar gemacht, um der Gestapo keine Angriffsflächen zu bieten.“

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sagte sie, man dürfe sich der Verantwortung nicht entziehen, „vor allem, wenn man glaubt, damit auch als katholischer Mensch für die Aufgaben der Katholiken wirken zu können“. Im Herbst 1945 fand man Wessel im Kreis der Wiederbegründer der Zentrumspartei, die sich 1933, um einem Verbot zuvorzukommen, selbst aufgelöst hatte. Der auf Zentrumstraditionen zurückgehenden Neugründung CDU, die auch Protestanten anzusprechen versuchte, mochte sie sich nicht anschließen. Hier meinte sie – nach den Worten ihrer Biographin Elisabeth Friese – „zu viele reaktionäre Kräfte“ auszumachen. Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit und Demokratie sah sie am ehesten im Zentrumsprogramm gegeben. Dieses neigte wirtschaftspolitisch nach links, neben Mitbestimmung und Mittelstandsförderung sprach man sich dort für die Möglichkeit von Enteignungen aus.

Im Zentrum hatte Wessel eine Vielzahl von Positionen inne. Unter anderem saß sie im Zonenbeirat und später im Landtag von Nordrhein-Westfalen. Zudem wurde sie Lizenzträgerin für eine zentrumsnahe Zeitung. Sie versuchte, der geringen Präsenz von Frauen in der Politik durch entsprechende Förderung entgegenzuwirken.

Ihre Partei entsandte sie in den Parlamentarischen Rat. In der Versammlung, die am 8. Mai 1949 das Grundgesetz verabschieden sollte, widmete sie sich unter anderem dem Ehe- und Familienrecht. Spott musste sie auch über sich ergehen lassen. Als sie ausführte, sie stehe „seit 20 Jahren in der Arbeit am unehelichen Kind“, erfolgte prompt der Zwischenruf: „Wann kommt’s denn endlich?“ Da ein Elternrecht nach ihren Vorstellungen nicht aufgenommen wurde, ebenso wenig soziale Grundrechte und der von ihr vehement befürwortete Volksentscheid, verweigerte Wessel am Ende dem Grundgesetz ihre Zustimmung. Dennoch gilt sie als eine von dessen „Müttern“.

Als Abgeordnete zog Wessel in den ersten Deutschen Bundestag ein. Wie viele andere hätte der CDU-Vorsitzende und Ex-Zentrumspolitiker Konrad Adenauer das Zentrum gern näher bei der Union gesehen, angeblich war sogar ein Ministeramt für Wessel im Gespräch – dies alles zerschlug sich. Sie selbst sah ihre Partei weit von der CDU entfernt. Im Oktober 1949 wurde sie Parteivorsitzende und übernahm auch den Fraktionsvorsitz. In beiden Positionen war sie die erste Frau in Deutschland. 

Ihre Differenzen mit der Union sollten sich bald weiter verschärfen. Bezüglich der unbedingten Ablehnung der Remilitarisierung folgte das Zentrum seiner Vorsitzenden nur zu Beginn. Wessel sah in der Bewegung der Bundesrepublik in Richtung NATO und in der einseitigen Orientierung am We­sten eine Verfestigung der Spaltung Deutschlands. Dieser Linie folgend, wurde sie im November 1951 Mitbegründerin der „Notgemeinschaft für den Frieden Europas“, in der an führender Stelle auch der ehemalige CDU-Innenminister Gustav Heinemann tätig war. Angestrebt wurde ein neutrales Deutschland. Auf diese Weise sollte die Zustimmung der Sowjetunion, deren Sicherheitsbedürfnis man ja auch berücksichtigen müsse, zur Einheit erlangt werden. Einerseits fanden die Ideen der „Notgemeinschaft“ Anhänger, vor allem bei Intellektuellen. Andererseits stießen die Vorstellungen auch auf scharfe Kritik. Der Vorwurf lautete, man bediene die Sache der östlichen Gegenseite. Im März 1952 tönte es anlässlich eines Auftritts in West-Berlin: „In Moskau steht ein Sessel für Frau Helene Wessel!“

Von der Zentrumspartei hatte sie sich entfremdet. Sie trat aus und gehörte anschließend zum Präsidium der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), die aus der Notgemeinschaft hervorgegangen war. Auch hier wirkte die „undogmatische Katholikin“, so die Biografin Friese, mit dem protestantischen Heinemann eng zusammen. Bei der Bundestagswahl 1953 erzielte die GVP allerdings nur 1,2 Prozent der gültigen Stimmen. Eine nicht unerhebliche Rolle spielte dabei, dass die GVP mit dem „Bund der Deutschen“ zusammenarbeitete, der im nicht unbegründeten Verdacht stand, von der DDR unterstützt zu werden. 

1957 löste sich die GVP auf, es gab die Empfehlung, der SPD beizutreten. Neben Heinemann, der später Bundespräsident werden sollte, vollzog auch Wessel diesen Schritt. Wichtig für sie war, dass die Sozialdemokraten sich vom atheistischen Marxismus entfernt hatten. Über die SPD-Liste gelangte sie wieder in den Bundestag. Engagiert war sie nun gegen den „Atomtod“ und die „Notstandsgesetzte“, übernahm aber, auch gesundheitsbedingt, keine herausgehobenen Parteiämter mehr. Am 13. Oktober 1969 ist sie in Bonn gestorben.