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04.10.19 / Justizirrtum oder Intrige? / Vor 125 Jahren begann mit der Verhaftung des jüdischen Generalstäblers Alfred Dreyfus die nach ihm benannte Affäre

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-19 vom 04. Oktober 2019

Justizirrtum oder Intrige?
Vor 125 Jahren begann mit der Verhaftung des jüdischen Generalstäblers Alfred Dreyfus die nach ihm benannte Affäre
Wolfgang Kaufmann

„J’Accuse …! (Ich klage an …!)“, schrieb der prominente Schriftsteller italienisch-französischer Herkunft Émile Zola 1898 in einem offenen Brief an Frankreichs Staatspräsidenten. Damit bezog er in einem aufsehenerregenden Justiz­skandal Stellung, der die Grande Nation bereits seit 1894 beschäftigte, nämlich die Verurteilung des Artillerieoffiziers Alfred Dreyfus wegen angeblicher Spionage für Deutschland.

Die Dritte Französische Republik weist gewisse Analogien zur Weimarer Republik auf. Beide waren Nachfolger eines Kaiserreiches. Beide Vorgängerstaaten waren in einem großen Krieg untergegangen, 1870 das bonapartische Zweite Kaiserreich im Deutsch-Französischen Krieg, 1918 das hohenzollerische zweite deutsche Kaiserreich im Ersten Weltkrieg. In den Staatsapparaten beider Republiken gab es noch starke Kräfte, die dem gewesenen System hinterhertrauerten und deren Loyalität zum neuen begrenzt war. Die antideutschen Gefühle in der Dritten Republik standen den antifranzösischen in der Weimarer in nichts nach. Und wie die Weimarer war auch die Dritte Republik von Krisen geschüttelt. 

Allerdings waren der Dritten Republik bei allen Analogien weitaus mehr Jahre vergönnt als die 14 der Weimarer Republik. Im 22. Jahr ihrer Existenz erschütterte sie der Panamaskandal. Mehr als die Hälfte des Geldes, das Anleger in das Kanalbau-Projekt investiert hatten, versickerte in dunklen Kanälen. Zu den Profiteuren gehörten dabei auch einige jüdische Bankiers, was zum Anschwellen des Antisemitismus in Frankreich führte. Aus all dem erwuchs eine hochbrisante innenpolitische Situation, in der schon der geringste Funke genügte, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Und den lieferte dann 1894 die Affäre Dreyfus.

Seit 1891 verschwanden immer wieder wichtige Dokumente aus dem französischen Kriegsministerium beziehungsweise Generalstab. Dabei ging der 1871 als zweite Abteilung des Generalstabes gegründete und Deuxième Bureau (zweites Büro) genannte französische militärische Auslandsnachrichtendienst Section Statistique et de Reconnaissances Militaires davon aus, dass diese dem deutschen Militärattaché Maximilian von Schwartzkoppen zugespielt worden seien. Also setzte das Deuxième Bureau diverse Spitzel auf den preußischen Offizier an, von denen die Putzfrau Marie Bastian schließlich auch Erfolg hatte. Sie fand am 25. September 1894 in von Schwartzkoppens Papierkorb ein sogenanntes Bordereau, wie Verzeichnisse übergebener Dokumente damals hießen. Dieses listete höchst geheime französische Unterlagen auf, die der Attaché erhalten zu haben schien.

Nach Recherchen des französischen Historikers Jean Doise in den 1990er Jahren war hier aller Wahrscheinlichkeit nach ein Doppelagent am Werke gewesen, der die Gegenseite mit Falschinformationen über die französische Artillerie versorgte, um so von der Entwick­lung der neuen 75-Millimeter-Kanone abzulenken. Das freilich wuss­ten nur ganz wenige Eingeweihte, die nun ungerührt zusahen, wie man der durch die Presse aufgescheuchten Öffentlichkeit einen Sündenbock präsentierte. Angesichts des damaligen politischen Klimas schien sich für diese Rolle keiner besser zu eignen als der erste und einzige jüdische Offizier im französischen Generalstab, Alfred Dreyfus.

Der Artilleriehauptmann wurde am 15. Oktober 1894 in das Dienstzimmer des Generalstabschefs, Generalmajor Raoul Le Mouton de Boisdeffre, beordert, wo er eine Schriftprobe abgeben musste. Weil diese angeblich mit der Schrift des Bordereau identisch war, wanderte Dreyfus sofort ohne weitere Untersuchung ins Gefängnis Cherche-Midi. Nur wenige Wochen später stand er wegen Landesverrates vor dem Kriegsgericht in Rennes. Das erklärte ihn am 22. Dezember 1894 aufgrund diverser vom Deuxième Bureau manipulierter Beweise sowie eines dilettantischen graphologischen Gutachtens für schuldig und verurteilte ihn zur Höchststrafe, lebenslanger Haft, Verbannung und Degradierung. Letztere erfolgte am 5. Januar 1895 in aller Öffentlichkeit auf dem Hof der École Militaire. Dabei forderte ein Teil der aufgepeitschten Volksmassen nicht nur Dreyfus’ Tod, sondern den aller Juden.

Vom 13. April 1895 bis zum 9. Juni 1899 wurde der Verurteilte auf der sogenannten Teufelsinsel in Französisch-Guayana gefangen gehalten, während sein Fall in der Heimat immer größere Wellen schlug. Eine schnell wachsende Zahl von zumeist republikanischen Unterstützern Dreyfus’ forderte die Wiederaufnahme des Verfahrens, weil sich mittlerweile herausgestellt hatte, dass das Bordereau ganz offensichtlich aus der Feder von Hauptmann Ferdinand Walsin-Esterházy stammte. Der musste sich im Januar 1898 dann auch vor dem Militärtribunal verantworten, wurde jedoch trotz erdrückender Beweislage freigesprochen, was klar auf eine Verschwörung hindeutet. Walsin-Esterházy machte später geltend, er habe im Auftrage seiner Vorgesetzten gehandelt – und das entspräche auch der Wahrheit, wenn er der Doppel­agent gewesen war. Oder gab es tatsächlich noch jenen großen Unbekannten, von dem beispielsweise Frankreichs früherer Botschafter in St. Petersburg Maurice Paléologue in seinen Memoiren sprach?

Auf jeden Fall kochte die Stimmung in Frankreich von Monat zu Monat höher, was am Ende zu einer sukzessiven Revision der Anklage gegen Dreyfus führte und die Militärführung in die Defensive drängte. Zuerst wurde das Strafmaß von 1894 am 9. September 1899 wegen „mildernder Umstände“ auf zehn Jahre Festungshaft reduziert, dann begnadigte der neue Staatspräsident Émile Loubet den Delinquenten aus „humanitären Gründen“. Und am 12. Juli 1906 rehabilitierte das Oberste Berufungsgericht Dreyfus schließlich sogar auf ganzer Linie. Anschließend kehrte dieser als Major in die Armee zurück und avancierte zudem noch zum Ritter der Ehrenlegion. Seine Karriere als Generalstabsoffizier konnte er trotzdem nicht fortsetzen. Im Ersten Weltkrieg kämpfte der nunmehrige Oberstleutnant freiwillig an der Front. Er starb 1935 an einem Herzinfarkt. 

Die Dreyfus-Affäre war der größte politische Skandal zur Zeit der Dritten Französischen Republik. Sie führte zur tiefen Spaltung der französischen Gesellschaft. Auf der einen Seite standen all jene, die das Ganze als antirepublikanisches Komplott von Militär, Justiz und katholischem Klerus ansahen, auf der anderen Seite die, welche von einer okkulten jüdisch-protestantischen Verschwörung gegen Frankreich ausgingen und gnadenlose Vergeltung forderten. Hieraus resultierte eine kollektive Hysterie, deren Nachbeben teilweise bis heute spürbar sind. So schrieb der österreichisch-ungarische Publizist Theodor Herzl unter dem Eindruck der antisemitischen Stimmung in Frankreich sein wirkmächtiges Buch „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“, mit dem er quasi das Ur-Manifest des modernen Zionismus vorlegte und den Weg für die Gründung des Staates Israel bereitete.

Zur Affäre kommt in Kürze ein Historiendrama von Roman Polanski mit dem Titel „J’accuse“ in die Kinos.