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04.10.19 / Die erste Präsidentin eines frei gewählten Parlaments / Vor 100 Jahren wurde Annemarie Renger geboren – Der Brandtsche Linksschwenk ihrer Partei war nicht mehr ihrer

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-19 vom 04. Oktober 2019

Die erste Präsidentin eines frei gewählten Parlaments
Vor 100 Jahren wurde Annemarie Renger geboren – Der Brandtsche Linksschwenk ihrer Partei war nicht mehr ihrer
Manuel Ruoff

Wenn die erste „Miss Bundestag“ auch viel Sinn für Stil und Etikette hatte sowie für Luxusprodukte wie Sportwagen und schicke Kleidung, so entstammte sie doch einer zutiefst sozialdemokratischen Familie. Beide Elternteile waren SPD-Mitglieder. Der Vater, ein gelernter Tischler, war Stadtrat in Annemarie Rengers Geburtsstadt Leipzig und Chefredakteur der „Arbeiter-Turnzeitung“. Nach dem Umzug der Familie in die Reichshauptstadt 1924 übernahm er die Geschäftsführung der Zentralkommission für Arbeitersport- und Körperpflege. Sein und seiner Ehefrau am 7. Oktober 1919 geborenes fünftes Kind wusste schon früh, was es wollte. Laut Annemarie Rengers eigener Aussage wollte sie schon als Zehnjährige Parteisekretärin werden. Erst lief auch alles ziemlich gut. Mit einem Schulstipendium besuchte sie das staatliche Augusta-Lyzeum. 

Doch dann kamen 1933 die Nationalsozialisten an die Macht und sie verlor das Stipendium. Sie wich in eine Verlagskaufmannslehre aus, die sie mit der Kaufmannsgehilfenprüfung abschloss und in deren Anschluss sie sich als Angestellte in verschiedenen Funktionen durchschlug. Sie heiratete 1938, bekam einen Sohn und verlor im Zweiten Weltkrieg ihren Mann wie auch drei ihrer vier Brüder. Es sollte nicht der letzte Schicksalsschlag sein. Ihr 1966 geheirateter zweiter Mann starb 1973, und zehn Jahre vor ihrem eigenen Tod am 3. März 2008 musste sie auch noch den Tod ihres Sohnes miterleben. Der starb jedoch wenigstens nicht kinderlos, und so wohnte sie zuletzt mit einer Enkelin, deren Ehemann und deren Kindern zusammen.

Politisch ging es mit Annemarie Renger nach dem Ende der Herrschaft der Nationalsozialisten, die ihre Schullaufbahn so jäh unterbrochen hatten, steil bergauf. Die zum gewerkschaftsnahen, antikommunistischen, rechten Flügel der SPD gehörende spätere Bewunderin von Helmut Schmidt begeisterte sich für Kurt Schumacher, als sie in der Lüneburger Heide, wohin sie mit ihrem Sohn evakuiert worden war, von dessen Arbeiten am Wiederaufbau der SPD in den Westzonen hörte. Sie wurde seine Sekretärin, Reisebegleiterin, Krankenschwester, Haushälterin und Vertraute

Nach dem Tode des SPD-Partei- und -Fraktionschefs 1952 ging sie 1953 selber in den Bundestag. In Partei und Fraktion machte sie Karriere. 1961 wurde sie Mitglied des SPD-Parteivorstandes, 1969 Vorsitzende des Bundesfrauenausschusses der SPD, 1969 parlamentarische Geschäftsführerin der SPD mit Zuständigkeit für Finanzen, Personal, Ausschussbesetzung und die Präsenz in der Fraktion sowie 1970 schließlich Mitglied des SPD-Präsidiums.

Die Bundestagswahl 1972 ermöglichte ihr den Griff nach dem zweithöchsten Amt im Staate. 45,8 Prozent der Stimmen verschafften der SPD erstmals die größte Fraktion im Bundestag und damit das Recht, den Bundestagspräsidenten zu bestimmen. Renger ließ sich nicht erst bitten, sondern schlug sich selber vor. „Glauben Sie, man hätte mich sonst genommen?“, lautete ihr Kommentar zu diesem eigentlich wenig damenhaften Vorpreschen. 

Eleganz schloss bei Renger Machtbewusstsein nicht aus. „Der Bundestag ist kein Mädchenpensionat, in dem alles so gesittet zugeht“, lautet einer ihrer diversen überlieferten Sprüche. Vielleicht ist die Mischung aus Eleganz und Machtbewusstsein gar nicht unvorteilhaft für einen Parlamentschef. „Ich habe in dieser Zeit erreicht, was ich wollte. Es ist bewiesen, dass eine Frau das kann“, sagte die erste deutsche Bundestagspräsidentin im Anschluss an ihre Amtszeit – und niemand wird bezweifeln, dass sie den Beweis erbracht hat. 

Dass sie 1976 den Chefsessel räumen musste, lag weniger an ihr als am Wähler. Denn Letzterer machte von 1976 bis 1994 die Fraktion der Union zur stärksten und verschaffte ihr damit das Recht, den Bundestagspräsidenten zu stellen. Renger musste sich mit dem Stellvertreterposten begnügen, ein Posten, den ihr aber bis zu ihrem Auszug aus dem Bundestag niemand streitig machte. Ihr direkter Nachfolger als Bundestagspräsident wurde Carl Carstens.

Als Opfergang muss man ihr Duell im Jahre 1979 mit Carstens um das Amt des Bundespräsidenten interpretieren. Sie war chancenlos. Nachdem sich die Union für einen eigenen Kandidaten entschieden hatte, hatte Bundespräsident Walter Scheel wohlweislich auf eine Kandidatur für eine zweite Amtszeit verzichtet. Die Chancen der SPD-Kandidatin Renger waren noch geringer, als es die Scheels gewesen wären, da die FDP sich in der Bundesversammlung enthielt. Hier erwies sich der Zählkandidat Renger als Parteisoldat, eine Niederlage mit Ansage.

Die lange Amtszeit im Präsidium des Bundestages sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Machtbasis der rechten Sozialdemokratin schon bald nach dem Erreichen des Höhepunktes ihrer politischen Karriere mit der Wahl zur Bundestagspräsidentin zu erodieren begann. 1973 schied sie aus Präsidium und Bundesvorstand ihrer Partei aus. Die Partei wurde zunehmend linker und sie nicht. 1981 sammelte sie Unterschriften für die „Thesen zur Identität der Sozialdemokratie“ des ebenfalls zum rechten Flügel zählenden Parteifreundes Richard Löwenthal. Im darauffolgenden Jahr forderte sie „alte Tugenden“ wie „Disziplin statt eines chaotischen Individualismus und Egoismus“ sowie „Einheit der Organisation statt des Extrawillens mancher Arbeitsgemeinschaften“. 

Bei ihren letzten beiden Wahlen in den Bundestag 1983 und 1987 bewarb sie sich vergebens um die Aufstellung als Direktkandidat. Nur noch über die Landesliste gelangte sie ins Parlament. Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 trat sie nicht mehr an. 

Aus Anlass des 100. Geburtstags von Annemarie Renger gibt das Bundesfinanzministerium eine Briemarke über 1,55 Euro heraus. Umrahmt von zwei schmaleren Bildern, die sie in früheren und späteren Jahren zeigen, ist sie auf dem zentralen Bild zu sehen, wie sie dem weggeschnittenen Parteifreund und damaligem Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel im Bundestag wenig damenhaft den Vogel zeigt.