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04.10.19 / Voll im Rausch / Berlin erfasste in den 1920er Jahren eine Morphiumwelle – Die Modedroge war erst zwei Jahrzehnte zuvor erfunden worden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-19 vom 04. Oktober 2019

Voll im Rausch
Berlin erfasste in den 1920er Jahren eine Morphiumwelle – Die Modedroge war erst zwei Jahrzehnte zuvor erfunden worden
Bettina Müller

Seit jeher haben die Menschen eine Hang, sich – wie der Dichter Charles Baudelaire es nannte – „künstliche Paradiese“ mit Drogen zu schaffen. In den 1920er Jahren war in Berlin Morphium die Drogenmode Nummer 1. Als schmerzbetäubende Arznei wur­de es im Ersten Weltkrieg vielen Verletzten verabreicht, die später davon abhängig wurden.

1804 entdeckte der Paderborner Apothekergeselle Friedrich Wilhelm Sertürner den aus der Mohnpflanze gewonnenen Wirkstoff „Morphin“, der im Laufe der Zeit umgangssprachlich zum „Morphium“ wurde. Dass das auch euphorisierend wirkende Opiumderivat trotz erheblicher Nebenwirkungen bei unzweck­mäßiger Anwendung einmal Eingang in die Lebenswirklichkeit bestimmter Kreise zur Förderung der Kreativität finden würde, hätte sich Sertürner wohl nie träumen lassen.

„Mit bleichen Gesichtern und erschlafften Zügen, die Augen starr und gläsern, hocken die Kokainisten, in sich zusammengefallen, auf ihren Bänken. Im Gegensatz hierzu ist der Morphinist an seinem geröteten, etwas aufgedunsenen Gesicht zu erkennen. Auch seine Augen blicken ins Leere.“ Mit diesen Sätzen beschrieb der Berliner Schriftsteller Adolf Sommerfeld in seinem 1923 erschienenen Kriminalroman „Die Tanzdiele am Kurfürstendamm“ die grauenhaften Zu­stände in einer fiktiven Drogen-„Lasterhöhle“. Erst im letzten Drittel des Buchs konfrontierte er den Leser damit, der sich zu­nächst in Sicherheit gewähnt hatte, weil das Buch zunächst als harmlose Liebesgeschichte be­gonnen hatte.

Doch dann ging Sommerfeld bewusst in eine Form der Anklage über, um nicht zuletzt auch Ab­schreckung zu erzielen. Der Leser erschauderte bei diesem Einblick in menschliche Abgründe nur kurz, schenkte sich danach ge­nüsslich eine Tasse Mokka ein, um dann wieder zur Tagesordnung überzugehen, während ein imaginärer Sommerfeld mahnend den Zeigefinger auf diejenigen richtete, die für die Herstellung und den lukrativen Vertrieb der Drogen verantwortlich waren.

Bereits 1919 hatte der Stummfilm „Morphium“ die Zuschauer gleichermaßen verstört und fasziniert. Der Film war Teil einer „Trilogie des Rausches“, die mit dem Film „Opium“ eingeläutet wurde und schließlich 1923 mit „Die Opfer des Kokain“ böse endete.

Eine Droge reichte nicht mehr, die Zeit war schnelllebig, man musste immer weiter, wollte immer mehr – wenn man es sich leisten konnte. Der kreative Schub und Glücksrausch wurde nun selber in der Wahrnehmung zur Droge, und deshalb war auf einmal alles Morphium: Theaterstücke, Pantomimen, Sketche, Tänze. Auch der Berliner Kurt-Ehrlich-Verlag, der sowieso auf eher „anrüchige“ Literatur spezialisiert war, die oft nur knapp an der Zensur vorbeischrammte, sprang be­gierig auf den Drogenzug auf und ließ den Schriftsteller Edmund Edel „Sylvias Liebesleben“ fabulieren, die natürlich die „Tragödie einer Morphinistin“ war und die die Verlagskassen klingeln ließ.

Artikel in einschlägigen Tageszeitungen beschrieben detailliert das „Flair“ der verruchten Lasterhöhlen. Wer mental stark war, erkannte, dass das nichts für ihn sein konnte. Bei anderen war die Neugier geweckt, die zusätzlich auch noch durch Journalisten wie Leo Heller geschürt wurde, der sich gerne in solchen Höllen bewegte, um sie literarisch zu verarbeiten, natürlich nur mit Polizeischutz. Dabei durfte er den befreundeten Kommissar Ernst Engelbrecht schon mal auf einer Razzia begleiten. Das Ziel: die „Kokainhölle“ um die Ecke. Blitzschnell wurde der Laden durch Engelbrecht und seine Mannen gestürmt und hochgenommen, etliche Drogenbosse und abhängige Konsumenten, die sich nicht ausweisen können, einkassiert.

Heller beschönigte nichts, seine Drogenhöhle war ein wahres Pa­noptikum, wo man überteuerten Sekt schlürfte und sich dem zweifelhaften Vergnügen des Anblicks einer mageren Nackttänzerin hingab, die sich zum Klavierspiel dilettantisch an „Schönheitstänzen“ versuchte: „Die bleiche Pianistin unterbricht ihr Spiel. Vom Lied ‚Nur eine Nacht sollst Du mir gehören‘ war sie höchstens bis zur Nacht gekommen.“ 

In Kultur und Literatur war das Thema für den Betrachter eher abstrakt, und nicht jeder hatte den Mut und das Geld, seiner Neugier nachzugeben und sich die „Stätten des Lasters“ in der Realität anzuschauen. Sehr real wiederum war das Problem für die Berliner Polizei, die in diesen ungewissen Zeiten seit der Ausrufung der Weimarer Republik sowieso durch ständige Unruhen alle Hände voll zu tun hatte. Der Drogenschmuggel war ein Problem, ebenso häuften sich Fälle von Morphiumdiebstählen aus Lazaretten. Die Presse berichtete unverblümt über Selbstmörder, die sich mit Morphium das Leben nahmen. 

Kriminelle gingen noch weiter und benutzten die Droge, um ihre Opfer zu betäuben und dann auszurauben. Darauf spezialisiert war zum Beispiel Rose Gentschow, Stieftochter eines Danziger Gutsbesitzers, die unverschuldet durch eine schwere Krankheit zunächst in Morphiumabhängigkeit und dann in eine hoffnungslose Abwärtsspirale geraten war und sich aus eigener Kraft nicht daraus befreien konnte. Sie verfiel komplett der Droge und wurde dann von einem Zuhälter dirigiert und angestiftet, Männer anzulocken, sie zu betäuben und auszurauben. 

Doch eines Tages ging der Plan nicht auf und ein Kaufmann starb an einer Überdosis. Vor Gericht beteuerte Rose ihre Unschuld, es sei ein Versehen gewesen. Im Jahr 1924 wurde sie wegen Körperverletzung mit tödlichem Ausgang zu zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt, woraufhin der Romanautor Joseph Roth den Fall literarisch im „Prager Tagblatt“ in dem Feuilletonartikel „Rose Gentschow“ verarbeitete. „Sie verkaufte sich nur, um sich betäuben zu können“, hieß es darin über die bedauernswerte Kreatur, die unwiderruflich ab­hängig vom „Morphium der schmerzenden Seele“ war. 

Das gehäufte Vorkommen von Drogenmissbrauch in den 1920er Jahren hatte 1925 zum Genfer Opiumabkommen ge­führt. Doch dann verdoppelte sich bis 1928 laut „Genfer Opium-Kommission des Völkerbunds“ die Weltproduktion von Morphium auf 80000 Kilogramm. Vor bald 90 Jahren wurde (am 10. De­zember 1929) dann ein neues Opiumgesetz herausgegeben, das fast unverändert bis 1971 gültig blieb. Es regelte verschiedene Bereiche wie Erstellung, Erwerb und Abgabe von verschiedenen Betäubungsmitteln und stellte sie unter Aufsicht des Reichsgesundheitsamts.