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04.10.19 / Einen Bärenhunger / Im Herbst fressen sich Braunbären ihren Winterspeck an – In den Karpaten ernähren sie sich auch gerne mal von menschlichen Abfällen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-19 vom 04. Oktober 2019

Einen Bärenhunger
Im Herbst fressen sich Braunbären ihren Winterspeck an – In den Karpaten ernähren sie sich auch gerne mal von menschlichen Abfällen
Kai Althoetmar

Es ist 23 Uhr, das Tageslicht hat sich verabschiedet. La­ternen beleuchten spärlich die Strada Jepilor. Von einem Wohnungsbalkon ruft jemand herunter: „Keinen Blitz verwenden!“ Gegenüber den  Hochhäusern stehen Müllcontainer. Die Behälter sind von Drahtkäfigen umgeben, obenauf liegt Wellblech. Die Türen zu den Drahtverschlägen sind sperrangelweit offen. Eine Frau fährt mit dem Auto vor, um ihren Müll abzuladen. Sie sagt, sie würde hier nicht in den Wald gehen. Der beginnt direkt hinter den Containern.

Hinter geparkten Autos ducken sich ein paar Touristen. Neugier hat sie hierher gelotst. Nach einer Stunde hat sich ihr Warten gelohnt. Eine Bärin mit zwei putzigen Kleinen im Schlepptau streift keine 20 Meter entfernt am Waldrand entlang. Für Sekunden ist das Trio zu sehen, dann verschwindet es wieder im Dunkel.

„Sie kommen jeden Abend zu den Mülltonnen“, hatte der Taxifahrer versichert und gesagt, er habe keine Angst vor ihnen. Zwei Jungs aus der Siedlung erzählen vom letzten Todesopfer hier. Ein einheimischer Betrunkener. „Die Bären riechen den Alkohol“, sagen sie. Und Blitzlicht könne die Tiere aggressiv machen.

Racadau, ein Stadtteil von Kronstadt in Rumäniens Karpaten, ist eine Trabantensiedlung unter vielen, die zu Ostblockzeiten in die Landschaft geklotzt wurden. Mit einer Besonderheit: Sie liegt direkt am Fuße eines dicht bewaldeten Bergs. Und der Wald ist riesig. Es ist das Bergmassiv Piatra Craiului, das nach Kronstadt hinabmäandert – die Königsteiner Alpen, Heimat von Wolf, Luchs und Braunbär. Bären lassen sich in der Dunkelheit regelmäßig im Schatten der Hochhäuser sehen. 

Nacht für Nacht durchstöbern sie die Container nach Lebensmitteln – ein Spektakel, das Touristen wie Einheimische anlockt. Die Behörden in Kronstadt haben reagiert. Die Abfallbehälter werden häufiger entleert, die Container schließen besser als früher, Schilder warnen vor den Bären.

In den Karpaten leben rund 5500 Braunbären auf einer Fläche von der Größe Bayerns. Andere Schätzungen sind pessimistischer. Einerlei: Es ist der größte Bärenbestand Europas außerhalb Russlands und die mit Abstand größte Population in der EU. 

Bären sind Allesfresser und Opportunisten, die nehmen, was sich bietet. Im Frühjahr sieht man sie grasen, mal auch ein Rehkitz oder Lamm schlagen, im Sommer und Frühherbst suchen sie nach Beeren, Wurzeln, Insekten und Nüssen, gegen Winterende sind ihnen Aas und geschwächte Tiere willkommen. Im Herbst ist ihr Appetit besonders groß, der Winterspeck will angesetzt sein. In dieser Phase der Fresssucht plündert der Bär Felder, bricht Bienenstöcke auf und reißt junges Vieh. Oder durchwühlt Abfälle.

Braunbären sind ihrer Natur nach scheue Einzelgänger und eigentlich Kulturflüchter. In der Regel trollen sie sich, wenn sie Menschen gewahr werden. Ris­kant sind vor allem Begegnungen mit Bärinnen, die Junge mit sich führen – oder wenn ein Hund dabei ist, denn den betrachtet eine Bärin als Wolf, der ihre Jungen reißen will. 

In Rumänien wurden in den vergangenen 100 Jahren 24 tödliche Bärenangriffe erfasst. Oft waren Touristen die Opfer. Mal campierten sie verbotswidrig in Bärenland, mal versuchten sie Bären zu füttern, mal raste ein Bär, der vor einer Treibjagd floh, in eine Gruppe Wanderer. 2008 wurde in den rumänischen Karpaten ein deutscher Tourist von einem Bär schwer verletzt, der in dessen Zelt nach Fressbarem suchte. In den Bärenländern Italien, Frankreich, Österreich und Spanien hat es im gleichen Zeit­raum keinen Todesfall durch Bären gegeben. In Skandinavien gab es zwei tödliche Unfälle, nachdem Jäger von verwundeten Bären überrascht worden waren. 

Braunbären sind auf dem Erdball sehr weit verbreitet. Auf etwa 200000 Tiere in freier Wildbahn wird ihr Bestand geschätzt, davon leben allein über 100000 in Russland, die meisten anderen in Alas­ka und Kanada. In Europa – ohne Russland – sollen es etwa 14000 sein, zehn Populationen, verteilt auf 26 Staaten. Die „Rote Liste“ der vom Aussterben gefährdeten Arten gibt den Bären den Status „nicht gefährdet“. Regional sieht das anders aus. Im Kernland der USA ist der Braunbär sehr rar, in Europa ist die Situation durchwachsen. Finnland, Schweden, Russland, Estland, Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und alle Länder Ex-Jugoslawiens haben gesunde Bärenbestände, in West- und Mitteleuropa sieht es mit Ausnahme der Abruzzen eher mau aus. 

In Teilen Europas geraten Mensch und Braunbär in unvermeidbare Konflikte. Jahrhundertealt ist die Anziehungskraft, die Bienenstöcke, Viehställe und Fallobstwiesen auf Bären ausüben können. Ein Schauplatz des Bär-Mensch-Konflikts sind Rumäniens Karpaten. Die meisten Menschen dort leben noch von der Holz- und Almwirtschaft. Dass vereinzelt Bären im Umfeld der Dörfer auf Beutezug gehen, ist den Menschen nicht fremd. Hirten wappnen sich mit Herdenhunden, Pferche werden gut gesichert. Zudem werden Rumäniens Bären im Wald zugefüttert – um den devisenträchtigen Jagdtourismus zu fördern. Die Extrakost Mais oder Schlachtviehreste hält das Gros der Tiere davon ab, in Dorfnähe aufzutauchen. 

So gibt es weniger Schadensmeldungen in Gebieten, in denen die Bären zugefüttert werden, vermutlich weil Angriffe auf Schaf- und Rinderherden oder Bienenstöcke vor allem bei Nahrungsknappheit auftreten. Ausgleichs­zahlungen des Staates fallen dort seltener an, wo der Waldanteil hoch ist und es wenig Agrarflächen gibt. In Wäldern können sich Bärenpopulationen ungestört ausbreiten und kommen weniger mit Tierherden in Kontakt. 

Europaweit werden jährlich rund 3200 Zahlungen geleistet, um Schäden durch Bären zu regulieren. Am teuersten kommt es in Norwegen.