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11.10.19 / Der »göttliche Wind« der Verzweiflung / Vor 75 Jahren setzte Japan in militärisch aussichtsloser Situation auf Kamikaze

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-19 vom 11. Oktober 2019

Der »göttliche Wind« der Verzweiflung
Vor 75 Jahren setzte Japan in militärisch aussichtsloser Situation auf Kamikaze
Wolfgang Kaufmann

Als die Mongolen in den Jahren 1274 und 1281 versuchten, die japanischen Inseln zu erobern, wurden sie beide Male von gewaltigen Taifunen überrascht, welche die Invasionsflotten zerstörten. Daraufhin sprachen die Japaner von einem „göttlichen Wind“ (Kamikaze). Auf dessen rettende Wirkung hofften sie dann auch 1944/45. Nur sollte es diesmal die Angloamerikaner treffen und der Sturm nicht von Göttern, sondern von Menschen ausgehen.

Seit ihrer Niederlage in der Seeschlacht von Midway, dem „Stalingrad im Pazifik“, im Juni 1942 befand sich die Kaiserlich Japanische Marine in der Defensive. Und zwei Jahre später war ihre strategische Position schließlich hoffnungslos. Angesichts dessen regte der Luftwaffenhauptmann Okamura Motoharu am 15. Juni 1944 an, Piloten auf Selbstmordmissionen gegen die vorrückenden Alliierten zu schicken – ganz im Stile der Samurai und deren Krieger-Ethik des Bushido, die in vergleichbaren Situationen nur den „ehrenvollen“ Suizid kannte. Dem folgten angeblich mehrere Versuche, sich mit sprengstoffbeladenen Flugzeugen auf feindliche Kriegsschiffe zu stürzen, für die es aber keine sicheren Belege gibt. Erst im Ok­tober 1944 schlug dann tatsächlich die Geburtsstunde der Shimpu Tokubetsu Kogekitai (Tokkotai, Spezialan­griffs­truppe), der japanischen Luftwaffe, wobei das Schriftzeichen für „Shimpu“ auch als „Kamikaze“ gelesen werden konnte.

Zu diesem Zeitpunkt tobte der Endkampf um die von Japan annektierten Philippinen, deren Rück­eroberung durch die einstige Kolonialmacht USA am 16. Ok­tober 1944 begann. Weil die bei Manila stationierte 1. Luftflotte der Kaiserlichen Marine bald nur noch über 40 einsatzbereite Flugzeuge verfügte, war sie außerstande, ihrem Auftrag nachzukommen, den eigenen Kräften in der sich anbahnenden Seeschlacht im Golf von Leyte wirksame Deckung zu geben. Deshalb ordnete der gerade neu ernannte Kommandeur der 1. Luftflotte, Vizeadmiral Onishi Takijiro, am 19. Oktober 1944 während einer Besprechung auf dem Mabalacat-Flugfeld die Gründung der Tokkotai an. Offiziell handelte es sich dabei um einen Freiwilligenverband, jedoch stieg bereits so mancher der allerersten Kamikaze lediglich aufgrund des Drucks seiner Vorgesetzten und Kameraden ins Flugzeug, um gemäß der Devise „Ein Flugzeug – ein Schiff“ den „Heldentod“ für Kaiser und Vaterland zu sterben. Davon zeugt beispielsweise die Äußerung des Piloten Seki Yukio gegenüber dem Kriegsberichterstatter Onoda Masashi: „Ich gehe, weil es mir befohlen wurde.“ 

Am 25. Oktober 1944 kommandierte dieser Leutnant Seki die Gruppe von fünf Maschinen des 201. Marinefliegergeschwaders, die den ersten erfolgreichen Tokkotai-Angriff des Pazifischen Krieges unternahm, nachdem ein vorhergehender Einsatz am 21. Oktober ohne Ergebnis geblieben war. Als Ziel der Attacke fungierte die US Task Force Taffy III. Der Geleitträgerverband unter dem Kommando von Konteradmiral Clifton Sprague bestand aus sechs Flugzeugträgern und sieben Zerstörern und operierte östlich der Insel Samar. Die Kamikaze beschädigten zunächst die Geleitträger „Kalinin Bay“, „Kitkun Bay“ und „White Plains“. Um 10.50 Uhr krachte dann eine Mitsubishi A6M „Zero“ durch das Flugdeck des Trägers „St. Lo“ und explodierte im Inneren des Schiffes. Innerhalb einer halben Stunde sank der Flugzeugträger. Möglicherweise handelte es sich bei der „Zero“ um die Maschine von Seki. Im weiteren Verlauf des 25. und 26. Oktober 1944 konnten 50 nachfolgende Kamikaze Treffer auf den Geleitträgern „Sangamon“, „Suwannee“ und „Santee“ sowie 40 anderen Schiffen der 7. US-Flotte erzielen und vier davon versenken.

Es ist fraglich, was aus der Tokkotai geworden wäre, wenn sie nicht gleich zu Beginn derart spektakuläre Erfolge erzielt hätte. So jedoch nahmen die Kamikaze-Angriffe nachfolgend von Monat zu Monat zu. Bald kam dabei auch die eigens hierfür konstruierte, raketengetriebene und bis zu 900 Kilometer in der Stunde schnelle bemannte Gleitbombe Yokosuka MXY-7 „Oka“ zum Einsatz. Ebenso schick­te das Kaiserreich zahlreiche Soldaten mit bemannten Torpedos vom Typ „Kaiten“ sowie Sprengboote der Typen „Shinyo“ und „Maru-Ni“ auf Selbstmordmissionen.

Die größte Zahl an Kamikaze bot Tokio in der Schlacht um Okinawa auf. Im Zeitraum zwischen April und Juni 1945 stürzten sich über 1800 Maschinen der japanischen Heeres- und Marineluftwaffe auf die alliierte Flotte, welche die Invasion auf der japanischen Insel durchführte. Hierdurch verloren die Angreifer 33 Schiffe. Besonders schockiert waren die Amerikaner, als zwei Kamikaze-Maschinen im Abstand von einer halben Minute auf dem Deck ihres Flugzeugträgers „Bunker Hill“, dem Flaggschiff der Task Force 58, einschlugen. Die Bilanz der beiden Treffer waren 372 Tote und 264 Verwundete. Allerdings schaffte der Havarist es noch in den rettenden Hafen.

Der letzte Einsatz von Kamikazefliegern erfolgte am 15. August 1945 auf Befehl von Vizeadmiral Ugaki Matome – und zwar noch, nachdem der Kaiser die japanischen Streitkräfte im Rundfunk aufgefordert hatte, die Waffen niederzulegen. Acht Flugzeuge des Typs Yokosuka D4Y3 „Suisei“ attackierten bei Okinawa in militärisch völlig sinnloser Weise einige kleinere US-Schiffe. Dabei fand auch der mitfliegende Ugaki den Tod. Kurz nach ihm starb der Gründer der Tokkotai-Verbände, Vizeadmiral Onishi. Dieser schrieb am 16. August 1945 einen Entschuldigungsbrief an alle Kamikaze-Piloten und beging anschließend rituellen Selbstmord durch Aufschlitzen des Bauches (Seppuku beziehungsweise Harakiri).

Bis zu diesem Zeitpunkt waren rund 4000 junge Japaner bei dem Versuch ums Leben gekommen, das Kaiserreich durch ihr Opfer zum „Endsieg“ zu führen. Auf Seiten der USA und deren Verbündeten im Pazifikkrieg hatten die Kamikaze-Angriffe etwa 4900 Tote und 4800 Verletzte gefordert. Außerdem wurden wahrscheinlich 47 Schiffe versenkt, darunter drei Flugzeugträger und 14 Zerstörer. Weitere 368 schwimmende Einheiten erlitten Schäden. Damit konnte Japan das Blatt jedoch nicht wenden. Stattdessen nutzten die US-Amerikaner die Tokkotai als Vorwand für die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki: Wenn es schon während der Eroberung von Okinawa zu einer derartigen Welle von Selbstmordangriffen gekommen sei, dann habe man bei der Landung auf den japanischen Hauptinseln sicher noch sehr viel umfassendere Kamikaze-Attacken zu erwarten. Also führe kein Weg am Einsatz der Atombomben vorbei, wenn der Blutzoll der Alliierten nicht ins Unendliche wachsen solle.