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18.10.19 / Reisegrund: Tod oder Familienfeier / Wie die DDR reagierte, wenn Angehörige ihrer Bewohner im Westen starben oder einen runden Jahrestag begingen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-19 vom 18. Oktober 2019

Reisegrund: Tod oder Familienfeier
Wie die DDR reagierte, wenn Angehörige ihrer Bewohner im Westen starben oder einen runden Jahrestag begingen
Heidrun Budde

Die Nachricht vom Tod naher Angehöriger ist traurig und an sich völlig unpolitisch, aber unter den Bedingungen der deutschen Teilung machten die SED-Funktionäre daraus einen politisch hochbrisanten Vorgang, der allerdings öffentlich nicht bekannt werden durfte.

Friedrich Dickel, Minister des Innern der DDR und Chef der Deutschen Volkspolizei von November 1963 bis November 1989 regelte am 12. April 1976 in einer internen Ordnung Nr. 110/76, dass die behördlichen Todesmitteilungen aus der Bundesrepublik nur nach vorheriger Prüfung durch die Staatssicherheit an die Angehörigen ausgehändigt werden durften. Wörtlich ist in der Ordnung Nr. 110/76 zu lesen: „Wird keine Zustimmung erteilt, hat keine Benachrichtigung zu erfolgen … Die ersuchenden Dienststellen der BRD und von Berlin (West) erhalten keine Rückinformation über die Erledigung der Ersuchen. Jeglicher Schriftverkehr der Bereiche Inneres mit der BRD und Berlin (West) auf diesem Gebiet ist untersagt.“

Doch auch, wenn die traurige Nachricht den Empfänger erreichte, war völlig ungewiss, ob eine Reisegenehmigung tatsächlich erteilt wurde, denn die Antragsteller benötigten eine „schriftliche Zustimmung der Arbeitsstelle“, ohne dass Einzelheiten zum Verfahren geregelt worden wären. Es war ein absolut willkürliches Vorgehen im Hintergrund, gegen das sich niemand juristisch wehren konnte. 

So ist in der Stellungnahme eines Vorgesetzen vom 24. Oktober 1983 zu lesen: „Die Mutter unserer Kollegin S., Reinigungskraft, ist verstorben. Kollegin S. teilte es mir heute (Montag, 24.10.83) mit. Zuvor hatten mich der ABV (Abschnittsbevollmächtigte der Polizei) und eine weitere Institution angerufen. Wir einigten uns auf Ablehnung. Meine Stellungnahme hierzu: Kollegin S. ist eine wenig bzw. kaum politisch profilierte Persönlichkeit, die oftmals sehr unbeherrscht auftritt. Da wir in einer sehr angespannten Situation leben, käme es mir darauf an, daß DDR-Bürger politisch bewußt, unsere Friedenskonzeption vertreten können und auch in der Lage sind, die Friedensbewegungen in der BRD zu werten. Dazu ist Kollegin S. keineswegs in der Lage. Wie mir Kollegin S. sagte, wird ihr Bruder … an der Beerdigung teilnehmen können. Somit könnte eine Brücke zwischen der noch in der BRD lebenden Schwester (bislang bei der Mutter) und unserer Kollegin S. geschaffen werden.“ 

Die „weitere Institution“ wird hier die Staatssicherheit gewesen sein und alle „einigten“ sich darauf, dass die Beisetzung der Mutter in der Bundesrepublik ohne die Tochter stattzufinden habe. So einfach war das und kein Gericht durfte diese Entscheidung nachprüfen. 

Vorgesetzte, die ihre beruflichen Karrierechancen nicht riskieren wollten, beugten sich dem Druck und akzeptierten den aufgezwungenen politischen Zusammenhang für jede private Reise in die Bundesrepublik. Das führte zu einer Angepasstheit der Bürger, die mitunter bizarre Züge annahm, wie diese Auszüge aus den Akten belegen: 

19. Dezember 1975, Reisegrund: Silberhochzeit der Schwester: „Wir haben keinen Zweifel an der Ehrlichkeit der Kolln. Z. in ihrer Haltung zu unserer Republik. Es ist aber auch klar, daß sie politisch nicht kämpferisch auftreten wird. Deshalb können wir trotz aller positiven Seiten … keine Befürwortung des Antrages geben.“

30. Juni 1978, Reisegrund: lebensbedrohliche Erkrankung des Vaters: „Partei- und Gewerkschaftsleitung befürworten den Antrag, da unserer Meinung die Gewähr dafür gegeben ist, daß die Kollegin B. in der BRD wie ein bewußter Staatsbürger unserer sozialistischen DDR auftreten und pünktlich zurückkehren wird.“

27. September 1978, Reisegrund: Hochzeit des schwer krebskranken Bruders: „Ich erläuterte der Genn. von W. noch einmal ,Grundregeln‘ für Reisen in die BRD. Diese müßten ihr als Genossin ohnehin bekannt sein … Im Verlaufe der Aussprache sagte ich der Genn. von W. daß wir – wenn uns auch das persönliche Problem nicht unberührt läßt – einer Lehrerin und Genossin die Befürwortung nicht geben.“

14. November 1978, Reisegrund: lebensbedrohliche Erkrankung der Mutter: „Aus diesem Grunde hoffen wir, daß sie als Bürger unseres Staates auftritt und einen klaren politischen Standpunkt vertritt.“

7. Januar 1980, Reisegrund: Beisetzung der Mutter: „Wir schätzen den Genossen R. als einen bewußten Genossen, der über einen festen Klassenstandpunkt verfügt und ihn jederzeit vertritt.“

23. April 1982, Reisegrund: 70. Geburtstag der Mutter: „Das schönste Erlebnis müsste ja wohl für die Oma sein, wenn sie ihren Geburtstag im Kreise ihrer Angehörigen in der DDR verbringt. Diese Begründung ist aber nur die eine Seite, die mich bewog, keine Befürwortung auszusprechen. Die andere, viel entscheidendere Seite ist die Rechtlosigkeit unserer Bürger in der BRD. Ich kann und will es nicht verantworten, dass sich die Kolln. P. einer unbegründeten Gefahr aussetzt.“

Dieses nebulöse Zustimmungsverfahren auf der Arbeitsstelle zeigt deutlich auf, dass Willkür ein zentrales Herrschaftsinstrument des SED-Staates war, um sich die Menschen gefügig zu machen. Ein gesicherter, gerichtlich einklagbarer Rechtsanspruch wurde immer dann unterbunden, wenn es politisch wurde. Dann herrschten allein willkürliche Maßnahmen außerhalb der Rechtsordnung. Das zeigt ein weiterer Aktenvorgang zu einem Todesfall in der DDR auf. 

Eine Mutter, die 1978 legal als Rentnerin aus der DDR nach West-Berlin verzogen war, machte sich 1980 große Sorgen um ihren zurückgebliebenen erwachsenen Sohn. Er war Epileptiker, war inzwischen geschieden und hatte starke Alkoholprobleme. Die Frau wollte ihm helfen, und dazu sollte er zu ihr nach West-Berlin übersiedeln, denn sie durfte wegen einer Einreisesperre nicht in die DDR einreisen. Sie schrieb mehrere Briefe an die DDR-Behörden und drohte damit, die bundesdeutsche Presse einzuschalten, was die SED-Funktionäre wohl sehr verärgerte. Schließlich gaben sie nach und der Mann bekam die „Position 4“ auf der Ausreiseliste vom 4. Dezember 1980. Die Übersiedlung zur Mutter stand kurz bevor. Doch das Schicksal wollte es anders. Am 15. Dezember 1980 starb der Mann. In einem Brief der Abteilung Inneres des Rates der Stadt ist zu lesen: „Die geschiedene Ehefrau lehnt jegliche Aktivitäten einer Beisetzung ab. Aus den bisherigen Aktivitäten der Mutter ist zu entnehmen, daß diese an einer Überführung nach Berlin-West interessiert ist. Wir sind in Übereinstimmung mit den Sicherheitsorganen an einer Einreise der Frau … nach … zwecks Beisetzung nicht interessiert. Frau … steht in der Sperrkartei. Wir bitten um Einleitung entsprechender Maßnahmen. Eine Information durch uns nach West-Berlin erfolgte nicht.“ 

Die Akte endet mit einem kleinen handschriftlichen Zettel, auf dem am 24. Dezember 1980 vermerkt wurde: „mit VO (Verbindungsoffizier) des MfS abgestimmt am 22.12.80 zurück Gen. S. teilt mit – nichts veranlassen – Mutter sollte nicht benachrichtigt werden – absetzen von Liste und Ablage“.

Wann diese Mutter vom Tod ihres Sohnes erfahren hat und wann sie erstmalig Blumen auf sein Grab legen konnte, war der Akte nicht zu entnehmen. An der Einreise einer ehemaligen DDR-Bürgerin zwecks Beisetzung waren die SED-Genossen „nicht interessiert“. Sie mussten sich dafür vor niemandem rechtfertigen und im Artikel 86 der Verfassung waren die schönen Worte zu lesen: „Die sozialistische Gesellschaft, die politische Macht des werktätigen Volkes, ihre Staats- und Rechtsordnung sind die grundlegende Garantie für die Einhaltung und die Verwirklichung der Verfassung im Geiste der Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Menschlichkeit.“