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18.10.19 / Patente Lamellen / Ein sicheres Dach über dem Kopf – Die Zollbauweise in Merseburg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-19 vom 18. Oktober 2019

Patente Lamellen
Ein sicheres Dach über dem Kopf – Die Zollbauweise in Merseburg
Helga Schnehagen

Der Zollstock geht nicht auf ihn zurück, das Zollingerdach schon. Friedrich Reinhardt Balthasar Zollinger (1880–1945) erfand nicht nur die typisierte Schüttbeton-Bauweise, er erfand auch das typisierte Rauten-Lamellendach. Beide Verfahren zur fabrikmäßigen Herstellung serieller Bauteile ließ er patentieren, was ihn allerdings nicht vor einem erbitterten Rechtsstreit mit Hugo Junkers, dem Gründer der Dessauer Junkers-Werke, bewahrte. Dieser hatte Zollingers Idee aufgegriffen und ein Lamellendach aus dünnen Blechen konstruiert, um Hallen und Hangars zu überwölben. 

Beide einigten sich schließlich außergerichtlich, die Metallkonstruktion unter dem Namen Junkers-Zollbau-Lamellendach ge­meinsam zu vermarkten. Die In­novation erregte Interesse. Schon 1926 bauten die Junkers-Werke im Auftrag der türkischen Regierung im Innersten Kleinasiens Hallen, deren zu Bündeln zusammengefasste Lamellen per Kamelkarawane durch die weglose Steppe transportiert wurden.

Während die Junkers-Dächer im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört wurden, ist Zollingers Dachtragwerk aus Holz bis heute vielerorts zu bewundern. Ganz besonders in Merseburg, wo der Architekt von 1918 bis 1930 Stadtbaurat war und die nach ihm benannte Zollbauweise ab 1922 erstmals zum Einsatz kam. 

Mit dem Bau des Ammoniakwerks bei Leuna 1916 strömten tausende Arbeiter in die neue Industrieregion. Die Wohnungsnot machte – wie vor 100 Jahren in allen aufstrebenden deutschen Industriegebieten – erfinderisch. Zollinger gelang es, mit einem Generalbebauungsplan in zehn neuen Stadtvierteln 1086 Neubauten entstehen zu lassen und damit in nur zwölf Jahren Merseburgs Wohnungsbestand fast zu verdoppeln. Mit ihren spitz zulaufenden Tonnendächern prägen die „Neubauten“ das Stadtbild bis heute.

Unter dem sperrigen Titel „Das Dach der Moderne. Zollbau Merseburg. Konstruktion und weltweite Verbreitung“ widmet das Kulturhistorische Museum Schloss Merseburg dem Erfinder Zollinger noch bis zum 27. Ok­tober mit Modellen, Fotos und Schrifttafeln eine eigene Ausstellung. In Zeiten wachsender Ökobilanzierung kann ein Blick auf Zollingers technisch geniale und dazu materialsparende Dachvariante durchaus lohnen. Zentrales Element ist ein schmales Brett, dessen eine Längskante gebogen geschnitten ist und dessen Schmalseiten abgeschrägt sind. Zu Rauten zusammengeschraubt bilden die Bretter ein netzartiges freitragendes Dachgewölbe, das ein Vielfaches der damals möglichen Spannweiten zulässt. 

Der Zollbau schrieb Architekturgeschichte. Nach diesem Prinzip baute das Architekturbüro Ollertz aus Fulda die Dachlandschaften der 2009 und 2010 eröffneten Toskana-Thermen von Bad Sulza und Bad Orb. Mit seiner Modernisierung beschäftigt sich aktuell eine Forschungsgruppe an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig. Einen optimalen Blick auf das historische Zollerdach hat man in Merseburgs Freiimfelder Kreuzkapelle, deren Rautenkonstruktion von 1932 nicht verkleidet ist. 


Kulturhistorisches Museum Schloss Merseburg, Domplatz 9, geöffnet täglich 9 bis 18 Uhr, Eintritt: 3,50 Euro.