19.04.2024

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01.11.19 / Orte des Schreckens dem Vergessen entrissen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-19 vom 01. November 2019

Orte des Schreckens dem Vergessen entrissen
Dirk Klose

Das sowjetische System von Zwangsarbeit und Arbeitslagern ist als „Gulag“ weltweit bekannt und berüchtigt. In seiner Grausamkeit, in seinen Ausmaßen und menschenverachtender Zielsetzung übersteigt es letztlich alle Vorstellungskraft, auch im heutigen Russland, in dem einerseits Museen und Mahnmale die Erinnerung wachhalten sollen, andererseits der Terror verdrängt oder schöngeredet wird. Das ist, so sagt es die russisch-amerikanische Journalistin Masha Gessen, in Putins Russland Merkmal der heutigen Geschichtsschreibung: „Es sagt letztendlich, dass das halt einfach passiert ist, aber egal.“

Die in Moskau geborene Masha Gessen ist 1981 in die USA emigriert. Russland ist aber ihr großes Thema geblieben; in mehreren, penibel recherchierten Büchern hat sie die Verfolgung oppositioneller Gruppen in der Putin-Ära thematisiert. Ebenso hat sie die Verharmlosung von Stalins Terrorsystem angeprangert. Für ihr Engagement erhielt sie in diesem Frühjahr den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. 

Wie aktuell das Gulag-System für viele Menschen immer noch ist, zeigt ihr Buch „Vergessen“, in dem Eindrücke von mehreren Orten des Schreckens – von den Todeslagern Kareliens über solche im Ural bis nach Kolyma im Fernen Osten – dem Leser eine beinahe traumatische Zeitreise ermöglichen. An Einzelschicksalen zeigt sie, wie heute der Gulag wieder mehr und mehr tabuisiert wird. Die Menschenrechtsgruppe „Memorial“, die unter Gorbatschow und Jelzin viel Wissen über den Gulag beigetragen hat, wird von staatlicher Seite zunehmend isoliert und behindert. Die Autorin bringt bedrückende Beispiele, wie Menschen noch heute nach früheren Angehörigen, die im Gulag waren und dort verendet sind, suchen. 

Den größten Eindruck bei diesem Buch machen aber die Schwarz-Weiß-Bilder des russischen Fotografen Misha Friedman. Er hat in den hier vorkommenden Orten fotografiert. Es sind Aufnahmen von verlassenen Lagern, von ihren Räumen und Absperrungen, Aufnahmen von einsamen, menschenfeindlichen Landschaften (Kolyma), Ruinenstädte, verrottete einstige Devotionalien, kaum einmal Menschen. Die Unmenschlichkeit des Systems ist hier geradezu mit Händen zu greifen. 

Der Untertitelbestandteil des Buches „Putins Russland“ zeigt, worauf die Anklagen zielen. Ihnen kann man, zumal hier im Westen die Härten des russischen Alltags gar nicht erlebt werden, nicht widersprechen. Aber ist nun alles hoffnungslos? Als es noch keinen polnischen Staat gab, sang man dort unter der Fremdherrschaft jahrzehntelang „Noch ist Polen nicht verloren.“ Das möchte man auch für Russland gelten lassen. Gerade jene oppositionellen Gruppen, für die sich Gessen so vehement einsetzt, sind es doch, die in den vergangenen Monaten immer wieder gegen staatliche Repressionen aufgestanden sind und mutig demonstriert haben. Sie halten die Hoffnung wach, dass das Land nicht in einer Des-potie versinkt.

Masha Gessen: „Vergessen. Stalins Gulag in Putins Russland. Mit Fotos von Misha Friedman“, dtv Verlag, München 2019, gebunden, 160 Seiten, 25 Euro