29.03.2024

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08.11.19 / Berliner Mauerfall minutiös wiedergegeben

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-19 vom 08. November 2019

Berliner Mauerfall minutiös wiedergegeben
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Die Chronik des Autors Hans-Hermann Hertle, des zwei­fellos besten Kenner sjener schick­salsträchtigen Tage, basiert mit ihren überaus vielen Einzelheiten auf Unterlagen des SED-Polit­büros sowie auf Gesprächen mit der Führung der DDR und speziell der NVA sowie auf vielen Zeitzeugenaussagen, wie denen von Mitarbeitern des ZK der KPdSU, Sowjetdiplomaten und sogar mit Michail Gorbatschow und dem US-Präsidenten George Bush. Anfang 1989 hatte Erich Honecker erklärt, die Mauer werde noch 100 Jahre bestehen. Tatsächlich kannte er bereits ein Jahr zuvor die wahre Lage. Im Sommer 1989 kam die KGB-Führung zu der Ansicht, die deutsche Teilung sei „nicht länger aufrecht zu erhalten“. Am 8. Oktober befahl Honecker das sofortige Unterbinden von „Krawallen“, während sein Nachfolger Egon Krenz offene Gewalt der Stasi ablehnte und für „politischen Dialog“ mit der Bevölkerung eintrat. Ende Oktober fanden bereits 145 Demonstrationen mit 540000 Teilnehmern statt. 

Damals gab es einen Beschluss über Auslandsreisen, die von Voraussetzungen abhängig waren – was ausreichend Spielraum für Auslegungen im SED-Sinne bot. Das Plenum hatte die ganze Tragweite seiner Entscheidung nicht erkannt. Jeder Reisende sollte 15 D-Mark erhalten, für die es aber keine Deckung gab. 

Allein ein Stoppen der Verschuldung von 20 Milliarden US-Dollar hätte 1990 zu einer Senkung des DDR-Lebensstandards bis zu 30 Prozent geführt, das Land wäre unregierbar geworden. Auf den Antrag Ost-Berlins hin, Bonn solle die Kosten mittragen, forderte Kanzler Helmut Kohl primär Reisefreiheit, Zulassung oppositioneller Gruppen und freie Wahlen. 

Geradezu minutiös erlebt der Le­ser die Pressekonferenz am 9. No­vember. SED-Politbüromitglied Günter Schabowski hatte die Unterlagen überhaupt nicht gelesen, war „in völliger Unkenntnis“‘ und über den Inhalt der Zeitbombe in Form des neuen Reisegesetzes mit Pässen und Genehmigungen nicht informiert. An eine Grenzöffnung dachte niemand, nur an eine Übergangsregelung. Auf Frage nach dessen Inkrafttreten folgten seine berühmt gewordenen Worte „Sofort, unverzüglich“. Dass sie zur Auf­lösung der DDR führten, lag „außerhalb seiner Vorstellungskraft“. Die ARD brachte um 

20 Uhr die Top-Meldung: „DDR öffnet Grenzen“ und in den „Tagesthemen“: „Die Tore an der Mauer stehen weit offen“. Die Folgen dieser falschen Situationsdefinition waren dem Sprecher selbst nicht bewusst. 

Die DDR-Grenzeinheiten waren in ihren Dienstvorschriften auf diese Situation nicht vorbereitet. Ein Befehl zur höheren Sicherungsstufe hätte der Bestätigung der höheren Kommandoebene bedurft, die ebenfalls nicht informiert war. Um 23.30 Uhr hieß es dann: „Wir machen alles auf!“ 

Kurz zuvor will Krenz Befehl gegeben haben, die Übergangsstelle in Berlin zu öffnen, was von der MfS-Führung dementiert wird. Am Brandenburger Tor betrachteten SED-Genossen des Grenzkommandos West, ebenfalls ohne Kenntnisse und Befehle, die Ereignisse „als Verrat und Hohn“ und richteten an den SED-Generalsekretär eine Protestnote, man habe zur Partei „kein Vertrauen mehr“. 

Nach den Worten des Autors zeigte sich das ZK am Tage nach dem Mauerfall „unwillig und unfähig, das Problem überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und sich mit dem Zusammenbruch des bisherigen Grenzregimes zu befassen. Krenz eröffnete die Sitzung, ohne auch nur ein einziges Wort zum Fall der Mauer oder zur aktuellen Lage an der Grenze zu verlieren.“ Entsetzt habe sich das Plenum über die katastrophale DDR-Wirtschaftslage gezeigt: „Panik, Chaos und die allgemeine Auflösungsstimmung“ breiteten sich aus. Ohne das ZK zu informieren, befahl Krenz zur Bewältigung der Lage die Einrichtung einer „Operativen Führungsgruppe des Nationalen Verteidigungsrates“, wobei militärische Aktionen nicht ausgeschlossen wurden. Sie wären möglich gewesen, hätten aber auch Bürgerkrieg bedeuten können – und eine Unterstützung Moskaus benötigt. 

Bereits am Vormittag des 9. November wollte Krenz die SU-Botschaft in Ost-Berlin erreichen und deren Reaktion auf die Lage erkunden und drängte auf Antwort – die nie erfolgte. Im Juni 1989 hatte Gorbatschow Honecker mitgeteilt, seine Armee werde sich nicht in DDR-Angelegenheiten einmischen. Eine Reiseregelung ohne seine Rückversicherung war für Moskau unvorstellbar, vom Mauerfall war man „völlig überrascht“. Bei der geforderten Erklärung fehlte Krenz der Mut zur Wahrheit, als er Normalität vorspiegelte durch die Falschinformation, seit dem 10. November, 6 Uhr sei „die Ordnung wieder hergestellt“. 

Tatsache war, dass am selben Abend bis zu 3000 Menschen auf der Mauer deren Beseitigung forderten. Stunden später war die erste Bresche in den „antifaschistischen Schutzwall“  geschlagen.

Hans-Hermann Hertle, „Sofort, unverzüglich“, Ch. Links-Verlag, Berlin, 2019, gebunden, 368 Seiten, 20 Euro