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06.12.19 / Gastbeitrag / Die Doppelmoral der Grünen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-19 vom 06. Dezember 2019

Gastbeitrag
Die Doppelmoral der Grünen
Reinhard Mohr

„Die Wahrheit ist konkret“ – so hieß es schon bei Hegel, bevor Bertolt Brecht und Dorothee Sölle dasselbe sagten. Am Donnerstag vergangener Woche hat sich die kluge Sentenz wieder einmal bestätigt. Tatort: Das Europaparlament in Straßburg, das in großer Geste und überwältigender Mehrheit den „Klimanotstand“ ausrief – was immer genau das bedeutete, denn von praktischen Notstandsmaßnahmen war zunächst nicht die Rede. Ganz vorne mit dabei: Der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold, 50, einst Mitglied der globalisierungskritischen Bewegung „attac“. „Ein richtiges und wichtiges Zeichen“, twitterte er beglückt von der eigenen Großtat, bevor er seinen Dienstrucksack schulterte und ins Flugzeug stieg: erst nach Frankfurt am Main, dann in den zweiten Flieger nach Berlin, wo gewiss weitere richtige und wichtige Zeichen gesetzt werden mussten.

Unglücklicherweise wurde er am Airport in Berlin-Tegel fotografiert, und so nahm der unvermeidliche „Shitstorm“ seine übliche Windgeschwindigkeit auf. Giegold selbst verteidigt sich mit dem guten alten Begriff des „Sachzwangs“: Natürlich hätte er mit der Bahn seine Termine in Berlin nicht geschafft. 

Eben. Das gilt dann aber auch für jene Tausenden Beamten, die wöchentlich, oft täglich, von Bonn nach Berlin und zurück pendeln, erst recht für den riesigen Tross von EU-Parlamentariern, Mitarbeitern und Beamten, die ständig zwischen Straßburg, Brüssel und ihren Heimat- bzw. jeweiligen Hauptstädten unterwegs sind. Es gilt für unzählige Berufstätige in aller Welt – sogar für Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems, Gründerin des European Democracy Lab in Berlin und rastlose Vortragsreisende, die jährlich gewiss zehntausende Flugkilometer hinter sich bringt.

Nur für die Diesel fahrende Landbevölkerung gelten andere Kriterien, zumal hier auch noch die großzügige Verteilung von Gülle, erhöhter Fleischkonsum beim Schützenfest und stundenlange sonntägliche Traktoreinsätze den durchschnittlichen CO2-Fußabdruck geradezu saurierhaft vergrößern. 

Ja, die Wahrheit ist konkret, und das macht auch das große Ziel der klimapolitischen Weltrettung so kompliziert. Denn sie steckt voller Widersprüche und Interessenkonflikte. Nur wer – wie die deutschen Grünen – glaubt, mit der gesetzmäßigen Logik der notwendigen geschichtlichen Entwicklung – so wie einst die Kommunisten – im höheren Bunde zu sein, neigt dazu, diese Konflikte zu beschönigen oder ganz zu verdrängen.

Ein winziges Beispiel aus der sprichwörtlichen Nussschale der Welt: Der Widerstand der Winzer gegen Windräder im weltberühmten Bordelais hängt selbst mit dem Klimawandel zusammen: Weil zu wenig Regen fällt, ist man auf unterirdisch verlaufende Wasseradern angewiesen. Die aber werden von den gigantischen Betonfundamenten der Windkraftanlagen unterbrochen – von geschredderten Zugvögeln, dem Dauerlärm der Rotoren und der Verschandelung dieser einzigartigen europäischen Kulturlandschaft nicht zu reden.

In Berlin-Prenzlauer Berg dagegen scheint alles ganz einfach: Man wählt grün, kauft „bio“ und sitzt anschließend gemütlich unterm Heizstrahler vorm „Anna Blume“. Die to-go-Becher werden demonstrativ cool durch die Straßen getragen, Porsche und SUVs parken bequem vor der Haustür, denn gleich bringt Mutti die Kleinen ja wieder zum Yoga. Die motorisierten Amazon-, UPS-, DHL- und Hermes-Kolonnen verstopfen derweil die Spielstraße, und im Nachbarhaus wechseln sich die airbnb-easyjet-Rollkofferkommandos im Stundentakt ab. Nebenan bereitet sich die Bekannte auf ihren Flug zum Theaterworkshop in Kolumbien vor. Über Weihnachten und Silvester geht’s dann an die Algarve.

Das kann man alles machen. Was jedoch nicht geht, ist das, was Spaßvögel einst beim Schulsport in der Turnhalle machten: Die Latte so hoch hängen, dass man locker drunter durch spazieren kann – die allerhöchste, ultimative Moral von Weltrettung und Erlösung von dem Übel als Mischung aus Sonntagspredigt, Panikattacke und Kindergeburtstag.  Frei nach Fancisco de Goya: Der Schlaf der praktischen Vernunft gebiert die Ungeheuer von Heuchelei und Doppelmoral. 






Reinhard Mohr war 1996–2004 Redakteur des Spiegel und bis 2010 Autor von Spiegel Online. Zu seinen Büchern gehört „Bin ich jetzt reaktionär? Bekenntnisse eines Altlinken“ (Gütersloher Verlagshaus, 2013).