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13.12.19 / Die Zeit der Illusionen ist vorbei / Wie tief steckt die NATO in der Krise, wenn der französische Präsident dem Bündnis bescheinigt, „hirntot“ zu sein, und der US-Präsident ihren Wert offen in Zweifel zieht? Gedanken zur Lage der Verteidigungsgemeinschaft nach dem Gipfel von London

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50-19 vom 13. Dezember 2019

Die Zeit der Illusionen ist vorbei
Wie tief steckt die NATO in der Krise, wenn der französische Präsident dem Bündnis bescheinigt, „hirntot“ zu sein, und der US-Präsident ihren Wert offen in Zweifel zieht? Gedanken zur Lage der Verteidigungsgemeinschaft nach dem Gipfel von London
Michael Stürmer

Es hätte schlimmer kommen können in den dunklen Novembertagen 2019 in Watford. Der NATO-Gipfel in London, der die Staats- und Regierungschefs aller NATO-Staaten zusammenführte, um 70 Jahre Atlantisches Bündnis zu würdigen und, wenn möglich, wieder Ziele und Mittel an die zunehmend gefährliche Weltlage anzupassen, endete mit guten Vorsätzen, Modernisierungsplänen für viele Milliarden US-Dollar, einer  einvernehmlich gebilligten Schlusserklärung und, zuletzt und vor allem, ohne Knalleffekte aus Washington. Noch ist die NATO also nicht verloren. 

Der französische Präsident Emmanuel Macron, zu Hause schwer bedrängt durch anhaltende Streiks und Unruhen, insistierte nicht auf seiner Diagnose, das atlantische Bündnis sei „hirntot“ (braindead), wie er dem Londoner „Economist“ kurz zuvor im Interview mitgeteilt hatte. Stattdessen führte er jene strategische Ambivalenz weiter, die seit den Tagen, als General Charles de Gaulle sich vor mehr als sechs Jahrzehnten zum Präsidenten der Republik wählen ließ, französische Außen- und Sicherheitspolitik kennzeichnet: Souveränität „ja“, aber möglichst mit nuklearer Rückversicherung durch das Bündnis – was im Klartext bedeutet durch die Amerikaner. Solange diese Bindung de facto gilt, kann Frankreich sich Sicherheitspolitik „touts azimuts“ leisten – in alle Richtungen, konventionell und nuklear. Just diese konventionell/nukleare Doppelstrategie aber ist es, die der Bundesrepublik Deutschland seit den Anfängen verwehrt ist – spätes Erbe, noch immer und auf alle überschaubare Zeit, des Zweiten Weltkriegs. 

Schlechte Umfragewerte

Aus Deutschland kamen rechtzeitig zu der Londoner Tagung, als sei es kein Zufall, Ergebnisse einer Meinungsumfrage der Koerber-Stiftung von der Art, die nicht nur distanziert die Temperatur misst, sondern mit dem Befund auch die Agenda bestimmt. Das Ergebnis: Die Deutschen, nach ihrer Meinung zum Bündnis befragt, haben nur noch mit knapper Mehrheit eine gute Meinung von der NATO und misstrauen Donald Trump mehr als Wladimir Putin. Sie wollen Ostpolitik für Russlandversteher und hätten, wenn es schon Verteidigungspolitik geben muss, gern eine Europa-Armee mit Frankreich als, wenn es schon nuklear sein muss, Garantiemacht. Dass die NATO von Anfang an und bis heute die organisatorische Form der erweiterten Abschreckung durch die US-amerikanische Weltmacht ist und damit des nuklearen Schutzes, den weder Frankreich noch das Vereinigte Königreich den Deutschen und den anderen nicht-nuklearen Europäern bieten können und wollen – wen bekümmert das in Deutschland? Unversehens ist aber, wenn die Deutschen sich politisch herausnehmen aus der Bündnisstrategie, die alte Deutsche Frage wieder da, die doch mit den Antworten von 1990 aufgehoben schien im atlantischen Sicherheitssystem. 

Was aber würde der Wüterich aus Washington mitbringen zum transatlantischen get together? Die Europäer haben mittlerweile gelernt, das Schlimmste zu erwarten und auf bessere Tage zu hoffen. „America first“ ist der Name des bitterernsten Spiels. Das bedeutet Abkehr von dem transatlantischen Gefüge von Regelsystemen und Gleichgewichten,  durch die die Neue Welt nach dem Zweiten Weltkrieg die alte Welt ins Leben zurückrief und zugleich doppelte Eindämmung leistete: Gegen die Gegenwart der Sowjetunion und die Vergangenheit Deutschlands. Trumps Unberechenbarkeit, gekoppelt mit der jüngsten Erfahrung, dass die Kurden zuerst die Terroristen des IS niederringen durften – mit hohen Verlusten – und dann über Nacht die amerikanischen Special Forces sie im Stich lassen mussten auf Geheiß des Präsidenten – diese bittere Erfahrung sprach und spricht stärker als alle Bekundungen der Sympathie und der strategischen Verbundenheit. Strategie, die ausgewürfelt wird je nach Belieben, ist keine Strategie.

Keine Macht der Welt konnte bisher der Pax Americana gefährlich werden, außer sie selbst. Diese Machtkonstellation erschien umso sicherer und nahezu unangreifbar, weil sie die Interessen der Führungsmacht mit denen der minderen Mächte verband: Nicht nur militärisch, sondern auch diplomatisch, technologisch, finanziell. Die amerikanische Seeallianz war, weit über „containment“ hinaus, dem sowjetisch/russischen Landimperium moralisch, politisch und strukturell weit überlegen und schien zu gelten bis ans Ende aller Tage. Ausdruck dieser Vision, den viele als Prognose lasen, war jener extravagante Essay, den im August 1989, nur Wochen bevor der Umbruch in Europa und bis nach Zentralasien Gestalt annahm, in der Zeitschrift „The National Interest“ erschien. Autor war ein Analyst der jüngeren Generation, der für die RAND-Corporation in Santa Monica und das State Department arbeitete und von deren Prestige getragen wurde – Francis Fukuyama. Seine These vom „Ende der Geschichte“ war vergleichsweise absurd und lief wider alle Erfahrung, aber sie traf den Zeitgeist und wurde – bewusst und unbewusst – zum Leitmotiv einer belle epoque, die keine war. Nach etwas mehr als einem Jahrzehnt setzte Ernüchterung ein und mehr als das: Die Erkenntnis nämlich, dass die Welt ein gefährlicher Ort war, dessen alten und neuen Bedrohungen sich kein Land entziehen konnte. 

Der Wert des Beistandsversprechens

Noch ist nicht aller Tage Abend für die Pax Americana. Aber wie viel ist Artikel Fünf des Nordatlantischen Vertrages noch wert, der durch sein Beistandsversprechen alles zusammenhalten und den Europäern notfalls „reassurance“ (also Beruhigung) durch die amerikanische Weltmacht bieten soll? Der  einflussreiche US-Senator John McCain hatte schon kurz nach dem großen Umbruch in Europa in der damals noch „Wehrkunde-Tagung“ genannten Münchener Sicherheitskonferenz diese Frage aus dem internationalen Publikum knapp beantwortet: „Anything, from a nuclear response to a postcard with regrets“ („Alles, von einer nuklearen Antwort bis zu einer Postkarte mit Bedauern“). Das Neue daran war nicht, dass jedes Bündnismitglied der NATO nach eigenen Interessen und Regeln zu entscheiden hatte. Das steht schon im Vertragstext von 1949 und sollte alle warnen, die von Automatik reden: Die gibt es nicht. Das Bündnis beruht auf Verträgen, das ist wahr. Wie viel diese aber im Ernstfall wert sind, muss immer neu entschieden werden nach Maßgabe nationaler Verfassungsgebote. Solange Amerika auf europäischem Boden unweit des Eisernen Vorhangs mit Macht vertreten war, nuklear und konventionell, und das Ganze wiederum abgesichert durch interkontinentale Systeme zu Wasser, zu Lande, in der Luft und im erdnahen Weltraum, Hunderttausende von Soldaten und Familien, Stützpunkte wie Heidelberg, Ramstein und Grafenwöhr, solange war Abschreckung konkret und die damit verbundene Stabilität in Europa jederzeit gesichert. Heute aber ist nichts mehr sicher. 

Die deutsche Idee, durch eine hochrangige Beratergruppe Neuorientierung zu schaffen und das Bündnis auf die kommenden technischen, politischen und strategischen Umbrüche auszurichten, wird so nutzbringend sein, wie sie schmerzhaft realistisch ist. In vergleichbarer Lage – atomares Patt und Suche nach Sicherheit – entstand 1967 der nach dem belgischen Außenminister benannte „Harmel-Bericht“, der seitdem das atlantische Denken bestimmte und jetzt einer Erneuerung bedarf, die mehr sein muss als ein Update. 

Seit den geopolitischen Umbrüchen, die 1989 oder kurz davor begannen, mit „Nine/Eleven“ eine neue Wende nahmen und bis heute kein Ende nehmen wollen, ist alles anders. Jene Handlungsfreiheit, die die USA seit Ende des Kalten Krieges im atlantischen Raum gewannen, ist im pazifischen Raum durch den Aufstieg Chinas zur Weltmacht eingeengt; und noch ist nicht sicher, wie die Supermacht von gestern mit der Supermacht von morgen langfristig Gleichgewicht und Stabilität finden soll. Amerika macht „Freedom of Navigation“ geltend, China alte Rechte und neue, imperiale Ambitionen. Die chinesische Führung setzt zudem auf Cyberwar, Künstliche Intelligenz, Militarisierung im erdnahen Weltraum – auf Masse und Klasse. Einer solchen Lage noch einmal Gleichgewicht und Rüstungskontrolle abzugewinnen, war im bipolaren System zweier Weltmächte schwierig genug – wieweit ein multipolares System theoretisch zu entwerfen und praktisch umzusetzen wäre, weiß gegenwärtig niemand. Die künftige NATO aber muss Antworten finden. Dann hat sie Zukunft – wenn nicht, dann nicht.

Koordinatenverschiebung

Die Europäer müssen sich darauf einstellen, je früher desto besser, dass die USA in eine Phase des „imperial overstretch“, der „imperialen Überdehnung“, eintreten, wo Russland alles daran setzt, eingeschlossen Strategie und Taktik der „hybrid warfare“,  des Tarnens und Täuschens, das letzte Kapitel der Sowjet-Geschichte neu zu schreiben. Im nördlichen Eismeer wie im Mittleren Osten zeichnen sich die Vektoren erneuerter russischer Expansion ab, abgestützt auf eine neue Rohstoffpartnerschaft mit China, dessen Übermacht der Kreml zugleich hofiert und fürchtet. China entwirft unterdessen die Koordinaten der „One Belt, One Road“-Strategie weltweiter Präsenz. Für die NATO bleibt Russland der Antagonist von gestern, China aber, im Diplo-Sprech von London, die  „Challenge“ von heute und morgen.

b Prof. Dr. Michael Stürmer war von 1988 bis 1998 Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Seit September 1998 ist er Chefkorrespondent der „Welt“ und der „Welt am Sonntag“. Zu seinen Werken gehören u.a. „Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918“ und zuletzt „Russland. Das Land, das aus der Kälte kommt“ (Murmann 2008).