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13.12.19 / Rattenfänger von Hameln / Eine alte Mär zahlt sich heute aus / Weihnachtszeit ist Märchenzeit – An Grimms Hamelner Rattenfänger ist aber so manches Wahres daran

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50-19 vom 13. Dezember 2019

Rattenfänger von Hameln
Eine alte Mär zahlt sich heute aus
Weihnachtszeit ist Märchenzeit – An Grimms Hamelner Rattenfänger ist aber so manches Wahres daran
Silvia Friedrich

Sicher ist jedem die Sage des „Rattenfängers von Hameln“ bekannt. Die Version der Brüder Grimm, welche die Geschichte 1816 unter dem Titel „Die Kinder von Hameln“ aufgeschrieben haben, wurde in mehr als 30 Sprachen übersetzt. 

Im Gegensatz zu vielen Märchen enthält eine Sage oft einen wahren Kern, ist ursprünglich mündlich weitergegeben und später aufgeschrieben worden. So heißt es in der Geschichte des Rattenfängers, dass im Jahre 1284 ein Mann, gekleidet in buntem Tuch, weshalb er Bundting genannt wurde, in die Stadt Hameln kam. Er versprach den Bürgern, die in ihren reich gefüllten Kornspeichern unter einer Ratten- und Mäuseplage litten, sie von den Nagern zu befreien. Man wurde einig und stellte dem Rattenfänger einen guten Lohn in Aussicht. Der Mann zog eine Pfeife heraus und pfiff so laut, dass alle Ratten und Mäuse aus den Löchern kamen und ihm folgten. 

Der Fortgang der Geschichte ist bekannt. Die Ratten ertranken, aber weil der Pfeifer keinen Lohn bekam, entführte er die Kinder der Stadt. Am 26. Juni 1284 erschien er, diesmal als Jäger verkleidet, mit grünem Anzug und rotem Hut. Er spielte sein Pfeifchen und lockte damit alle 

130 Kinder der Stadt zu sich. Knaben und Mädchen folgten ihm durch ein Tor zur Stadt hinaus zu einem Berg, den man Koppenberg nannte, und führte sie dort in eine Höhle. Die Kinder wurden nie mehr gesehen. Manche sagen, sie seien in Siebenbürgen wieder herausgekommen. Zwei Kinder sollen zurückgekommen sein, wovon aber das eine blind war und das andere stumm.

Bis heute konnten die Stadthistoriker nicht herausfinden, was damals wirklich passiert ist. Doch dass ein wahrer Kern enthalten ist, darauf gibt es viele Hinweise. Die älteste schriftliche Erwähnung der Geschichte findet sich in der Lüneburger Handschrift von 1430 bis 1450. 

Ein weiterer Beleg ist ein Hamelner Torstein, der heute im Stadtmuseum zu betrachten ist. Dieser wurde 1556 aufgestellt und hat die lateinische Inschrift: „ANNO 1556. Centum ter denos cum Magnus ab urbe puellos / duxerat ante annos CCLXXII condita fui“, was in etwa heißt: „272 Jahre, nachdem der Zauberer die Kinder aus der Stadt entführt hatte, bin ich Tor, gegründet worden.“ Im Stadtmuseum hängt ein 1650 nachgebildetes Kirchenfenster aus dem 13. Jahrhundert, dessen Original verschollen ist. Es zeigt den Rattenfänger und die Kinder. Warum die Bürger der Sage sogar in der Kirche einen Platz einräumten, bleibt hingegen bis heute unbeantwortet. 

Die letzte Straße in Hameln, durch die die Kinder beim Auszug gelaufen sein sollen, heißt Bungelosenstraße, was so viel wie „stille Straße“ bedeutet, denn in dieser darf seitdem für alle Zeiten nicht mehr getanzt und Musik gespielt werden. Wenn es Festumzüge gibt oder Feierlichkeiten, muss in dieser Straße Stillschweigen herrschen. An der Ecke steht auch das Rattenfängerhaus. So genannt seit 1900 wegen einer Inschrift an einem Holzbalken. Dort steht geschrieben, dass ein Pfeifer in bunter Kleidung am 26. Juni 1284 130 Kinder aus Hameln verleitet hat, die bei den Koppen verloren sind.

Erwachsene Landeskinder

Die Hamelner Bürger haben die Ereignisse in ihrem Stadtbuch aufschreiben lassen und begannen sogar mit einer neuen Zeitrechnung: „die Zeit nach dem Verschwinden der Kinder“. Der Spekulationen über den Verbleib der „Knaben und Mägdelein“ gibt es viele. In den dünn besiedelten Gebieten im Osten Europas gab es zu der Zeit wenige Arbeitskräfte. Damals zogen durchaus viele Werber durch die Lande, die mit bunten Gewändern und Pfeifen versuchten, Aufmerksamkeit für ihre Sache zu erregen. So besagt dieser Erklärungsversuch, dass der Verlust der Kinder, bei denen es sich – im Sinne von „Landeskindern“ – vielleicht um Erwachsene gehandelt hat, bedingt war durch auswanderungsbereite Bürger, die von adeligen Territorialherren zum Siedeln nach Mähren, Ostpreußen oder Pommern gelockt wurden. Unterstützt wird diese These von Namensforschern wie Jürgen Udolph, der Orts- und Familiennamen in Brandenburg verglich und Ähnlichkeiten mit Hameln vorfand.

Sind die Kinder der Pest zum Opfer gefallen oder einer Naturkatastrophe wie einem Erdrutsch? Spielte ein Kinderkreuzzug eine Rolle oder starben sie in einer Schlacht? Alle diese Theorien führen ins Leere. Es gibt weder Beweise noch Anhaltspunkte.

Eine weitere Darstellung von 1592 zeigt sehr detailreich und genau, wie der Rattenfänger die Kinder aus der Stadt zum Koppenberg führte. Anhand dieses Bildes meint Heimatforscher Gernot Hüsam, den Fall aufklären zu können. Dieser glaubt, dass die Grafen von Spiegelberg, die auf der Burg Coppenbrügge hausten, etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun haben könnten. Seiner Meinung nach haben sich junge Menschen aus Hameln damals auf dem magischen Koppenberg getroffen, um heidnischen Bräuchen zu frönen. Den kirchentreuen Grafen ging das zu weit, sodass sie die Jugendlichen durch ihre Schergen ermorden ließen. Die Toten versteckten sie in der Höhle und ließen den Eingang zuschütten. 

Das Bildnis enthielte viele Botschaften, die man nur genau deuten müsste. So befinden sich in der Mitte der Darstellung drei Hirsche. Das gräfliche Wappen enthält ebenfalls Hirsche. Wie dem auch sei, diesen mittelalterlichen Kriminalfall wird man vielleicht niemals lösen können.

Heute ist man sicher, dass die Rattenthematik erst 200 bis 300 Jahre später hinzugefügt wurde, denn Ratten können schwimmen und man kann sie nicht in einem Fluss ertränken. Auf diese Weise kam man durch die Verknüpfung der „Kinderauszugssage“ mit der „Rattenvertreibungssage“ zu einer Ursache-Wirkung-Erklärung der traumatischen Geschehnisse im 13. Jahrhundert. Dass es jedoch eine Rattenplage gab, ist sicher. Aber richtige Rattenfänger, die es durchaus gab, nahmen sicher Gift zu Hilfe, um die lästigen Nager loszuwerden.

Für Hameln erwies sich die Mär als Goldgrube. Touristen aus aller Welt kommen jährlich, wandeln auf den Spuren des Rattenfängers und tragen reichen Lohn in die alte Stadt an der Weser. Ein Lohn, der dem Rattenfänger dereinst versagt wurde.