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20.12.19 / „Einsame Wölfe“ Halle, Christchurch, Oslo – warum werden alleinstehende junge Männer zu Attentätern? Untersuchungen erkennen in den jeweiligen Abläufen konkrete Muster / Eine neue Form des Terrorismus / Wie und warum junge Männer zur Gefahr für die innere Sicherheit werden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51/52-19 vom 20. Dezember 2019

„Einsame Wölfe“ Halle, Christchurch, Oslo – warum werden alleinstehende junge Männer zu Attentätern? Untersuchungen erkennen in den jeweiligen Abläufen konkrete Muster
Eine neue Form des Terrorismus
Wie und warum junge Männer zur Gefahr für die innere Sicherheit werden
Friedrich List

Das Attentat von Halle am 9. Oktober 2019, bei dem ein Neonazi versuchte, an Jom Kippur ein Blutbad in der Synagoge der Saale-Stadt anzurichten, erschütterte die Republik und fand weltweit Beachtung. Das Attentat erfolgte nach einem bestimmten Muster, das auch an anderen Orten bereits zu sehen war: Ein einzelner Täter plant die Tat vollständig allein und führt sie auch selbst aus. Das persönliche Umfeld ahnt nichts, da der Täter sich schon lange vor der Tat aus seinem Alltag zurückgezogen und einer seinem Weltbild entsprechenden Online-Gemeinschaft angeschlossen hat. 

Stephan B., so der Name des Attentäters von Halle, hatte sich vor seiner Tat in rechtsextremen Online-Foren bewegt, ebenso der Attentäter von Christchurch, Brenton Tarrant. Beide bezogen sich in ihren Online-Manifesten auf den Norweger Anders Breivik, den Oslo-Attentäter von 2011. Alle hinterließen Manifeste, in denen sie ihre Taten rechtfertigen und die Vorbereitungen schildern. Tarrant und Stephan B. verbreiteten außerdem Live-Übertragungen ihrer Taten über das Internet. 

Wegen ihrer einzelgängerischen Vorgehensweise sprechen viele Experten von „Einsamen Wölfen“. Untersuchungen zeigen, dass diese Einzelgänger vieles gemeinsam haben. Die „American Terrorism Study“ (ATS oder „Amerikanische Terrorismus-Studie“) vergleicht allein agierende Terroristen und solche, die als Teil einer Gruppe handeln. Erstere sind gebildeter, aber auch sozial isolierter als Letztere. Ihre Tatvorbereitungen sind weniger auffällig, aber gleichzeitig sind sie bereit, beispielsweise große Entfernungen zum Tatort zurückzulegen. Tarrant war eine Weile herumgereist, bevor er sich Christchurch als Revier ausgesucht hat. 

Herkunfts- und Verhaltensmuster

Paul Gill und Emily Corner vom Londoner University College haben unter 119 „Einsamen Wölfen“, die seit 1990 aufgetreten sind, ebenfalls zahlreiche Gemeinsamkeiten festgestellt. Sie litten häufiger an psychischen Erkrankungen als diejenigen, die als Teil einer Gruppe agierten. Bei vielen spielten persönliche Schwierigkeiten eine genauso große Rolle wie politische Überzeugungen. Etwa die Hälfte von ihnen litt unter sozialer Isolation.

Für den Terrorexperten Florian Hartleb spielt auch berufliches Versagen eine große Rolle. „Diese einsamen Wölfe sind ja im Grunde jämmerliche Gestalten, die im realen Leben gescheitert sind. Sie flüchten sich in eine Art Paradieswelt und sie radikalisieren sich zugleich“, sagte er kurz nach der Tat in Halle im Deutschlandfunk. Hartleb konzentriert sich in seinen Forschungen auf rechtsextreme Täter. 

Aber es gibt auch andere „Einsame Wölfe“. Viele sind radikale Moslems, so etwa 2016 der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri. Viele folgten dem Aufruf des sogenannten Islamischen Staats (IS) von 2014 an Gleichgesinnte im Westen, sich dem Kampf anzuschließen, aber allein zu handeln. „Macht etwas, was einfach ist und von keinem zu verhindern ist“, ließ der IS damals verlauten. Ein anderer Teil sind ursprünglich sogenannte Incels, also Männer, die ohne Partnerin leben, überwiegend noch nie eine hatten und Frauen sowie die Gesellschaft als Ganzes für alles Mögliche verantwortlich machen. 

Alle Täter haben neben dem Geschlecht mehr gemeinsam: Sie sind jung und sozial schlecht integriert, leben oft noch zuhause, und sind ohne echten Beruf. Meist sind die Eltern geschieden, der Vater abwesend und die Bindung zur Mutter ungesund eng. Die extremistische Ideologie dient dazu, ihre persönliche Misere zu erklären.  

Schwierige Prävention

Dagegen eine Präventionsstrategie zu finden, ist schwierig. Die Politik sucht nach Gesetzeslücken, natürlich geraten Online-Foren mit ihrer oft rüden Debattenkultur in den Fokus. Sicherheitsorgane sollen „online“ verstärkt nach möglicherweise gefährlichen Individuen Ausschau halten. Doch so ziemlich alles, was etwa Stephan B. zur Tatvorbereitung getan hat, ist verboten. Dasselbe gilt für Gewaltankündigungen, Drohungen und Ähnliches im Internet. 

Viel wichtiger erscheint die Frage, warum gerade junge Männer aus der Gesellschaft herausfallen und nie den Übergang zum erwachsenen Mann schaffen. Stephan B. und Anders Breivik lebten bei ihren Müttern. In ihren alten Kinderzimmern.





Kurzporträts

Florian Hartleb lebt in Tallinn und arbeitet als Politikberater. 2018 erschien sein Buch „Einsame Wölfe. Der neue Terrorismus rechter Einzeltäter“. Darin beschreibt er diese neue Form des digital vernetzten, aber allein agierenden Rechtsterrorismus. Er kritisiert, dass rechte Gewalt oft nicht als solche eingestuft wird.

Paul Gill ist Dozent am Department of Security and Crime Science des University College London. Sein Forschungsschwerpunkt ist der Terrorismus von Einzeltätern. Mit Emily Corner untersuchte er die 119 Taten von „Einsamen Wölfen“, die seit 1990 zu verzeichnen sind.