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20.12.19 / Östliche Perspektiven / Vor dem Hintergrund zahlreicher Krisen in Europa und angesichts einer egoistischen US-Außenpolitik ist es an der Zeit, über eine Verbesserung der deutschen Beziehungen zu Russland nachzudenken

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51/52-19 vom 20. Dezember 2019

Östliche Perspektiven
Vor dem Hintergrund zahlreicher Krisen in Europa und angesichts einer egoistischen US-Außenpolitik ist es an der Zeit, über eine Verbesserung der deutschen Beziehungen zu Russland nachzudenken
Alexander Rahr

Jahrzehntelang war die Weltordnung intakt: Deutschland galt, neben Großbritannien, als der wichtigste Verbündete Amerikas. Die Transatlantische Gemeinschaft, samt ihrer Organisationen NATO und EU, funktionierte und prosperierte als das bedeutendste und mächtigste Bündnis der Welt. Die westliche liberale Werteordnung hatte Modellcharakter für andere Nationen und Kontinente. Doch diese gute, heile Welt ist an ihrem Ende angelangt. Die künftige Weltordnung wird multipolar und chaotischer sein – und mehr von den Europäern geprägt werden. 

Die USA lassen Deutschland und ihren anderen westlichen Verbündeten keine Wahl. Die EU, die noch vor wenigen Jahren mit den USA einen gemeinsamen Wirtschaftsraum bilden wollte, wird von den USA nur noch als Abnehmermarkt für amerikanische Rüstungsware, Flüssigkeitsgas und Hochtechnologie wahrgenommen. Die Welthandelsorganisation (WTO) ist lahmgelegt, die mühsam erstellten Regeln der Globalisierung infrage gestellt, im Welthandel gilt nur das Recht des Stärkeren. Die NATO ist in ihrer schwersten Existenzkrise. Nicht besser geht es der EU. Der Brexit, die Immigrationskrise und der Europopulismus stellen eine weitere Konsolidierung der Gemeinschaft infrage. 

Ein schwieriger Partner

Europa erweitert sich nicht, wie es geplant war, zusammen mit den USA, zu einer transatlantischen Großgemeinschaft. Donald Trump führt Handelskriege mit der EU. Großbritannien schert aus der EU aus, reiche EU-Länder im Norden zanken sich mit den armen im Süden. Mittelosteuropa orientiert sich wieder an nationalen, statt liberalen Werten. Deutschland verliert seine Führungsrolle. 

Doch die USA gehen in ihrem Bemühen, die Welt nach ihren egoistischen Vorstellungen zu ordnen, noch weiter. Sie wollen den europäischen Verbündeten die Energie-Allianz mit Russland verbieten, führen extraterritoriale Sanktionen gegen europäische Konzerne ein, die sich jahrzehntelang auf dem russischen Markt engagieren. Zudem bringen die Amerikaner die Europäer nicht nur gegen Russland, sondern auch gegen ihren globalen Hauptkontrahenten China in Stellung, indem sie die EU-Länder zwingen, auf chinesische Hochtechnologie-Produkte zu verzichten. Die heutige US-Führung nörgelt an der NATO herum, scheint bilaterale Militärabkommen mit strategisch wichtigen Ländern, darunter Großbritannien und Polen, zu bevorzugen.

Noch riskiert niemand in Deutschland einen Streit oder gar einen Bruch mit den USA. Den deutschen Führungseliten fehlt es an der Vorstellungskraft, sich von den USA abzukoppeln. Die Europäer hoffen auf Amerika nach Trump. Doch in Deutschland und in Frankreich machen sich inzwischen Strategen darüber Gedanken, wie das krisenbehaftete Verhältnis zu Russland verbessert werden könnte. 

Sowohl der französische Präsident Emmanuel Macron als auch Bundeskanzlerin Angela Merkel wären nicht abgeneigt, mit Russland auf Tuchfühlung zu gehen. Von Russland verlangen die Europäer ein Ende des Denkens in Einflusszonen. Für die europäische Sicherheitsarchitektur wäre in der Tat das Verschwinden dieser Einflusszonen vonnöten  – aber dann dürfte sich auch die NATO nicht weiter bis an die Grenzen Russlands ausdehnen. Eine Neutralität der Ukraine würde zum Beispiel viele gegenwärtige Probleme lösen. 

Vermutlich war es der große historische Fehler des Westens und Russlands nach dem Ende des Kalten Krieges, kein gemeinsames europäisches Haus zustande gebracht zu haben. Die Chance dazu bestand. Russland blieb jedoch außen vor und befindet sich heute mehr in Asien als in Europa. Und es wird immer stärker Teil der kommenden asiatischen Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur. Für Europa würde ein Verlust Russlands katastrophale Auswirkungen haben. 

Das Problem besteht darin, dass eine Verschmelzung des westlichen und östlichsten Teils des europäischen Kontinents völlig neue Institutionen erfordert. Denn Russland kann nicht Mitglied der EU und NATO werden. Ein solches Großeuropa wäre auch keine liberale Wertegemeinschaft mehr, sondern eine Interessensgemeinschaft – die sich aber durchaus erfolgreich gegen die globalen Herausforderungen stemmen könnte. 

Es ist sicherlich schwierig, sich ein Europa vorzustellen, in dem Russland aufgrund seiner Größe eine Führungsrolle, wie sie heute Frankreich und Deutschland spielen, beanspruchen würde. Die heutige europäische Friedensordnung wurde maßgeblich von den USA kreiert. Zwischen USA und EU gibt es eine Schicksalsgemeinschaft, ein fast religiöses Gefühl ewiger Verbundenheit. Amerika hat schließlich den Wohlstand und die Freiheit Europas im Zweiten Weltkrieg und späteren Kalten Krieg erstritten. Das kommunistische Russland war dagegen 45 Jahre lang der Okkupant Osteuropas. Nicht zuletzt werden sich die USA vehement gegen eine Mitbestimmung ihres Erzfeindes Russland über Europa sträuben. Auch die ehemaligen Warschauer-Pakt-Länder, allen voran Polen und die baltischen Staaten, können sich ein gemeinsames Europa mit Russland – dem Land, aus dem sie die größte Bedrohung für ihre nationale Sicherheit ableiten – nur in schrecklichen Albträumen vorstellen. 

Eine neue Ostpolitik? 

Viele Stimmen fordern eine neue Ostpolitik gegenüber Russland, die Ostpolitik Westdeutschlands gegenüber der Sowjetunion habe über die Formel „Handel durch Wandel“ schließlich den friedlichen Wandel in Osteuropa ermöglicht. Doch die Bundesregierung hält nichts von einer Neuauflage der Ostpolitik Willy Brandts. Damals, argumentiert man, war die Sowjetunion der einzige Ansprechpartner im Osten. Und von Moskau hing die Wiedervereinigung Deutschlands ab. Deshalb, so Berlin heute, war eine Befriedungspolitik notwendig. Heute jedoch steht nicht mehr Russland, sondern die neuen Alliierten des Westens, die souveränen Staaten Mittel- und Osteuropas, im Fokus. Ihre Weltanschauung, Interessen und Wünsche müssten Deutschland deshalb viel näher sein als die Russlands. Bundeskanzlerin Merkel wurde kurz nach ihrer Wahl 2005 mit dem berühmten Satz zitiert: „Ich werde nach Moskau nur noch über Warschau fahren“. Im Grunde genommen verzichtet Berlin auf eine deutsche Russlandpolitik zugunsten einer europäischen. 

Deutsche Interessen

In Wirklichkeit aber hat sich auch die Merkel-Regierung an die alten Prämissen westdeutscher Ostpolitik gehalten. In zwei entscheidenden Punkten stellte sich die Kanzlerin an die Seite der Russen und stimmte gegen ihre Verbündeten. Auf dem Bukarester NATO-Gipfel 2008 versuchten die USA, die beiden Ex-Sowjetrepubliken Ukraine und Georgien in das Bündnis zu integrieren. Doch da der russische Präsident Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 die Fortsetzung der NATO-Osterweiterung auf das ehemalige Gebiet der UdSSR als eine Überschreitung der „roten Linie“ definiert hatte, gebot Berlin – zusammen mit Paris – den US-Plänen Einhalt. 

Das zweite Mal stellte sich Deutschland in Fragen der Energiepartnerschaft an die Seite Russlands. Gegen heftigste Widerstände aus den USA und Mittelosteuropa wurde die zweite Ostseepipeline Nord Stream 2 gebaut, die künftig Deutschland mit zusätzlichem Erdgas aus Russland versorgen soll. Immerhin setzte Berlin aber gegenüber Russland durch, dass die Ukraine auch weiterhin als Transitland für russisches Gas nach Europa bestehen würde. Auch versprach Deutschland, um das Argument zu hoher Abhängigkeiten von Russland zu neutralisieren, Flüssigkeitsgas aus den USA zu beziehen. Ein Problem für die Annäherung Deutschlands an Russland sind die US-Sanktionen gegen unseren östlichen Nachbarn. Zwar hat auch die EU Sanktionen gegen Russland erlassen, um Moskau zu Zugeständnissen in der Ukraine-Krise zu bewegen. Doch war das Ziel dieser Sanktionen niemals die Beschädigung der russischen Wirtschaft. In den USA sieht die Sache anders aus. Die US-Sanktionen haben mit der Ukraine-Krise wenig zu tun, sondern dienen einzig und allein dem neuen erklärten Ziel der Amerikaner, den Erzrivalen aus dem Kalten Krieg geopolitisch einzudämmen und zu beschädigen. Das trifft auf das US-Establishment, nicht aber auf Präsident Trump zu. Seitdem mit Trump ein Außenseiter von außerhalb des Establishments zum Präsidenten gewählt worden ist, versuchen die etablierten Herrschaftseliten, ihn zu stürzen. Die deutsch-russischen Beziehungen sind zu Geiseln innenpolitischer Auseinandersetzungen in den USA geworden.  

Konkurrierende Konzepte

Die USA torpedieren indirekt die Friedensbemühungen Deutschlands und Frankreichs, eine Friedenslösung für die Ost-Ukraine herbeizuführen. Das Minsker Abkommen ist aus amerikanischer Sicht eine Kapitulation vor Russland und führt zur Schwächung der Ukraine. Die Westeuropäer sind anderer Auffassung, sie wollen – anders als die USA – mit Russland einen vorsichtigen Dialog über die Wiederaufnahme strategischer Kooperation beginnen. Es ist höchst interessant, welches europäische Konzept sich durchsetzen wird – das deutsch-französische Wunschmodell eines gemeinsamen Raumes vom Atlantik bis zum Pazifik oder das amerikanische von Vancouver bis Donezk.






Alexander Rahr war bis 2012 Programmdirektor für Russland/Eurasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und ist seit 2012 Forschungsdirektor beim Deutsch-Russischen Forum. Zu seinen Büchern gehört „Der kalte Freund. Warum wir Russland brauchen“ (Hanser Verlag, 2011).