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20.12.19 / Debatte / Wenn der Bergdoktor ruft / „Heimat“ ist wieder angesagt. Im Fernsehen und bei den Bürgern dieses Landes – doch leider nicht überall in der Politik. Anmerkungen zu einer ziemlich verklemmten Debatte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51/52-19 vom 20. Dezember 2019

Debatte
Wenn der Bergdoktor ruft
„Heimat“ ist wieder angesagt. Im Fernsehen und bei den Bürgern dieses Landes – doch leider nicht überall in der Politik. Anmerkungen zu einer ziemlich verklemmten Debatte
Reinhard Mohr

In wenigen Tagen, am 2. Januar um 20.15 Uhr, ist es wieder so weit: Der „Bergdoktor“ alias Hans Sigl rast mit seinem Oldtimer-Mercedes vor dem spektakulären Gipfelpanorama des „Wilden Kaiser“ durch grüne Almwiesen zu seinen Patienten, und rund 7 Millionen Zuschauer werden allein im ZDF dabei sein. ORF und SRF schließen sich im alpinen Raum an, und rasch wird wieder die Frage auftauchen: Wer schaut das eigentlich, und warum so viele? Vor allem Akademiker und Intellektuelle geben ungerne zu, dass sie inmitten von Brexit, Trump-Chaos, SPD-Desaster und Klimakatastrophe auch einmal ein Stück – halbwegs – heiler Welt brauchen, Naturromantik, Geborgenheit und ja, ein wohliges Heimat- und Zuhausegefühl. Nicht zuletzt: normale, freundliche Leute.

Toxisches Vokabular

Doch Achtung: „Heimat“ gehört immer noch zu den Reizwörtern, die in Deutschland besonders starke Reaktionen auslösen. Auch wenn Edgar Reitz‘ gleichnamige Filmtrilogie vor Jahrzehnten eine kleine Bresche schlug und wir nun sogar einen „Heimatminister“ haben: Seit 1945 war das Wort stets Teil eines toxischen Vokabulars, in den Augen großer Teile der Öffentlichkeit ein reaktionärer, ja gefährlicher Begriff. Schon deshalb galten Heimatvertriebene – ganz im Gegensatz zu den Flüchtlingen von heute – als Fußtruppen revanchistischer Machenschaften. 

Die Rede von der Heimat atmete für fortschrittlich Gesinnte den reaktionären Geist von „Blut und Boden“, von dunkelbrauner Ackerscholle und Jägerzaun, hinter dem sich eine ganze Armada von Gartenzwergen verschanzte. Das Zigeunerschnitzel im „Goldenen Hirschen“ komplettierte das Bild der Heimat, zu der der Lodenmantel genauso gehörte wie der sonntägliche Kirchgang und das örtliche Schützenfest, für das der Metzgermeister stets 500 Grillwürste beisteuerte. 

Der berüchtigte deutsche Heimatfilm der 50er Jahre – „Der Förster vom Silberwald“, „Wo der Wildbach rauscht“, „Die Sennerin von St. Kathrein“, „Einmal noch die Heimat seh’n“ – hat die Generation der 68er schon aus ästhetischen Gründen auf die Barrikaden getrieben. Das alles war ein Graus, eine „protofaschistische Spießer-Vorhölle“, die in den 70er Jahren die damals 18- bis 25-Jährigen massenhaft in die Flucht schlug. Parole: „Deutschland peinlich Vaterland. Nie wieder Sauerkraut! Nie wieder Heimat!“

Gesellschaft statt Dorfgemeinschaft

Mit politischer Inbrunst reiste man stattdessen nach Frankreich und Italien, half portugiesischen Olivenbauern bei der Ernte, aß Pasta statt Birkel-Eiernudeln, Baguette statt Schwarzbrot und trank Grappa statt Korn. Traf man im Ausland auf deutsche Touristen, dann schämte man sich. 

Von nun an ging es um Gesellschaft statt Dorfgemeinschaft, um Emanzipation und Autonomie. Sauerbraten, Lederhosen und Christmette gehörten zu einer anderen Galaxie. Man suchte eine neue Heimat in fremden Kulturen. Dabei reiste man bis nach Afghanistan und Indien. Während die WG zur Ersatzfamilie wurde, entwickelte sich die linke Szene zu einer Ersatzheimat, die schnell tiefe Wurzeln in die aufgewühlten Seelen schlug. Das intensiv durchlebte Drama der Selbst- und Weltveränderung brauchte nicht nur symbolische Orte, sondern auch Rückzugsgebiete, in denen man sich „zu Hause“ fühlte, wo es Vertrautes und Gewachsenes gab, Gemeinschaft, Freundschaft, gar Liebe und fraglose Selbstverständlichkeiten, also: Sicherheit und Geborgenheit. Et voilà.

Eigenarten unserer Tage

Es gehört zu den Absurditäten der politischen Debatte unserer Tage, dass Asylbewerber, Immigranten, Schutzsuchende, Flüchtlinge oder Geflüchtete – die Bezeichnung wechselt immer mal wieder – ihre Heimat verlassen, um sich bei uns in Sicherheit zu bringen, hierzulande aber angeblich nur auf hochgestimmtes Weltethos und das Asylbewerberleistungsgesetz treffen sollen, doch bei Gott nicht auf Menschen, die Deutschland, Bayern, das Allgäu, Amrum oder Kyritz an der Knatter ihre Heimat nennen und sie so lieben wie Syrer, Iraker und Afghanen die ihre.  

Dabei läuft gerade diese bigotte Selbstverleugnung dem wohlverstandenen Interesse an gelungener Integration diametral zuwider: Wo hinein sollen denn Menschen aus Afrika integriert werden, wenn die aufnehmende Gesellschaft selbst nicht weiß, was sie ist, woher sie kommt und was sie will? Was sie prägt, auszeichnet, besonders macht, so erfolgreich, liebenswert und attraktiv. 

Mehr als ein geschichtsloser „Verfassungspatriotismus“ à la Habermas ist nicht im Angebot des malstift-bunten Deutschland. Denn das ausdrücklich Eigene – die in Jahrhunderten gewachsene Kultur, Traditionen, Alltagsgewohnheiten – grenzt angeblich die anderen aus, sei diskriminierend, schlimmstenfalls rassistisch. Identität, kulturelle Prägung und Heimatbindung wird nur den Fremden zugesprochen, so jedenfalls die Reflexe eines großen Teils der politisch-kulturellen Öffentlichkeit. 

Ohne Bindung geht es nicht

Längst ist vielen klar, dass die je verschiedenen Heimatbindungen in einer demokratisch verfassten Gesellschaft alles andere als einen Widerspruch zu den Prinzipien der europäischen Aufklärung bilden. Im Gegenteil: Sie sind der Ort, an dem die in Sonntagsreden apostrophierten Werte gelernt und gelebt werden – selbst da, wo über sie erbittert gestritten wird.

Umso unverständlicher, dass vor allem die Parteien des linken Spektrums – SPD, Grüne und Linkspartei – „sozialen Zusammenhalt“ immer nur mit neuen Milliarden herstellen wollen. Längst schon ist der Etat des Bundesministers für Arbeit und Soziales mit 145 Milliarden Euro (2020) der mit Abstand größte Posten im Bundeshaushalt. Auf die Idee, dass es beim Thema soziale Gerechtigkeit auch um das Gefühl geht, dort, wo man lebt, zu Hause zu sein, am richtigen Ort mit den richtigen Leuten, um Freiheit, Selbstbestimmung und Zufriedenheit in überschaubaren Zusammenhängen, kommen sie nicht. Aber wer weiß: Vielleicht schalten Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans, das neue Traum-Duo der SPD, am 

2. Januar ja auch den „Bergdoktor“ ein. 

Der Titel der Folge: „Die dunkle Seite des Lichts“.






Reinhard Mohr war 1996–2004 Redakteur des „Spiegel“ und bis 2010 Autor von „Spiegel Online“. Zu seinen Büchern gehört „Bin ich jetzt reaktionär? Bekenntnisse eines Altlinken“ (Gütersloher Verlagshaus, 2013)