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20.12.19 / Russlanddeutsche / Eine Kirche für Marx / Evangelische Weihnacht im Süden Russlands – Neues deutsches Kirchenleben an der Wolga

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51/52-19 vom 20. Dezember 2019

Russlanddeutsche
Eine Kirche für Marx
Evangelische Weihnacht im Süden Russlands – Neues deutsches Kirchenleben an der Wolga
Bodo Bost

In Marx und Saratow an der Wolga sind zwei russlanddeutsche evangelische Gemeinden und zwei Kirchen wiedererstanden. In der einstigen Republik der Wolgadeutschen gab es einst über 200 deutsche evangelische Kirchen.

2006 begannen Lutheraner in Saratow, der größten Stadt an der Wolga, auf einem Grundstück in der Nähe des Flusses mit dem Neubau ihrer Kirche. Bereits 1993 war die während der Sowjetzeit unterdrückte und zerstörte russlanddeutsche Gemeinde wiedergegründet worden. Der Kirchenneubau war dringend nötig, weil die Gemeinde kein Zuhause hatte: Die einstige Kirche der russlanddeutschen Minderheit im Stadtzentrum war 1970 zum 100. Geburtstag Lenins gesprengt worden.

Inzwischen ist der Neubau voller Leben. Die üblichen Gemeindeaktivitäten mit Gottesdiensten sowie verschiedenen Gruppen und Kreisen finden hier genauso Platz wie die beeindruckende Konzertreihe „Orgel und Jazz“ oder diakonische Aktivitäten wie die Kleiderhilfe. Der Kirchsaal wurde im Frühjahr 2018 feierlich eingeweiht. Das Gustav-Adolf-Werk hat das Projekt von Anfang an begleitet und regelmäßig unterstützt. Aber fertig ist die Kirche noch nicht, wie das Gustav-Adolf-Werk berichtet. Am 2. und 3. Mai 2020 feiert die Gemeinde den 250. Jahrestag ihrer Gründung und hofft, bis dahin fertig zu sein.

Neues lutherisches Leben in Marx

Die russische Stadt Marx an der Wolga ist die einzige Stadt weltweit, die noch den Namen des Trierer Weltrevolutionärs trägt. Die einstige Metropole der Wolgadeutschen wurde im Jahr 1767 als wolgadeutsche Weber-Kolonie durch den holländischen Baron Ferdinand Baron Ca­neau de Beauregard als „Baronsk“ auf dem linken Wolgaufer gegründet. Eine deutsche Bezeichnung zu Ehren der russischen Kaiserin Katharina II., Jekaterinen­stadt beziehungsweise Katharinenstadt, erhielt sie erst 1768. 

Im Jahr 1919, nach der Oktoberrevolution, an der sich kaum ein Wolgadeutscher beteiligt hatte, aber dafür umso mehr Kommunisten aus Deutschland, wurde der Hauptort der Wolgadeutschen zu Ehren von Karl Marx in Marxstadt umbenannt. Von 1919 bis 1922 war er Gebietszentrum des Autonomen Gebiets der Wolgadeutschen und von 1922 bis 1941 Zentrum des Kantons Marxstadt der Republik der Wolgadeutschen, Hauptstadt wurde damals Engels. 1942, als die Wolgadeutschen bereits nach Zentralasien deportiert worden waren, wurde die Stadt in Marx umbenannt. So heißt sie trotz des Endes des Staatskommunismus und auch des Endes aller Wiederherstellungsversuche der Autonomie der Wolgadeutschen heute immer noch. 

Die erste evangelische Kirche haben deutsche Siedler in Marx 1840 aus eigenen Mitteln erbaut. Einige Jahre später wurde sie zur evangelischen Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit erhoben. Mit der Oktoberrevolution 1917 wurden nach einem Religionsverbot alle Kirchen nach und nach enteignet und geschlossen. Die lutherische Kirche wurde 1929, die katholische 1935 geschlossen. 

Das weitere Schicksal der Kirche gleicht dem vieler Gotteshäuser in Russland. Sie wurde zweckentfremdet, die Kirche in Marx wurde in ein Kulturhaus umgewandelt. Gegen Ende der 1950er Jahre kam es noch in der Chruschtschow-Ära zu einer weiteren Welle der Zerstörung religiöser Denkmäler, weil es in dieser Zeit erste zaghafte Bemühungen einer Rehabilitierung und Rückkehr der deportierten Wolgadeutschen gab. Die neuen zumeist russischen Bewohner der deutschen Orte wollten mit dem Zerstörungswerk eine Rückkehr der einstigen Besitzer erschweren. An der Kirche wurden damals die Kuppel und der Glockenturm samt Uhr zerstört. Erst im Zuge von Glasnost und Perestroika konnte in dieser Kirche wieder Gottesdienst gefeiert werden. 

1995 erhielten die Lutheraner ihr Kirchengebäude zurück. Es war eine der wenigen Kirchen, die auf dem Gebiet der ehemaligen Wolgadeutschen Republik halbwegs erhalten geblieben waren. Aber die Zeit der Zweckentfremdung war nicht spurlos an der Kirche vorübergegangen. Zur dringend notwendigen Sanierung und Restaurierung fand sich erst nach 20 Jahren überraschend ein in Saratow lebender Sponsor wolgadeutscher Herkunft bereit: Viktor Schmidt. Dass in Russland Oligarchen Kirchen bauen, ist weitverbreitet. Sie hatten den größten Nutzen von der nach Wildwest-Art verlaufenen Privatisierung des Volkseigentums nach 1991. 

Dank des Engagements von Schmidt begann im August 2014 der Aufbau des Glockenturms. Zu Weihnachten war der Rohbau bereits fertiggestellt und auch das Tragwerk der Turmhaube angeliefert. Am 

13. Oktober dieses Jahres wurde die Kirche wieder eingeweiht. Seit 1993 unterhält die evangelische Kirche Marx eine Partnerschaft mit der Stern-Kirchengemeinde in Potsdam gemeinsam mit deren holländischer Partnergemeinde „De Hoeksteen“, Schoonhoven. Pastor ist Jakob Rüb, der mit seiner Gemeinde nun eine erste besinnliche Weihnacht in der neu sanierten Kirche feiern kann.