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03.01.20 / Ein europäisches Lehrstück / Wie Eliten in Politik und Medien versuchten, das Ausscheiden der Briten aus der EU zu verhindern – und doch daran mitwirkten, dass es nun zum Brexit kommen wird

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01 vom 03. Januar 2020

Ein europäisches Lehrstück
Wie Eliten in Politik und Medien versuchten, das Ausscheiden der Briten aus der EU zu verhindern – und doch daran mitwirkten, dass es nun zum Brexit kommen wird
René Nehring

Die Geschichte des Brexits ist in mehrerlei Hinsicht ein Lehrstück. Vor allem ist sie ein Beispiel dafür, wie die Ignoranz eines Teils der europäischen Eliten in Politik und Medien gegenüber dem Willen eines Volkes genau jene EU-Verdrossenheit schürt, die diese ansonsten immer beklagen. 

Die vergessene Vorgeschichte

Doch der Reihe nach. Das britische Drama begann lange vor jenem 23. Juni 2016, als die Bürger des Vereinigten Königreichs für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union votierten. Schon seit den 90er Jahren hatte auch auf der Insel das Unbehagen über den Wandel der Gesellschaft infolge der Globalisierung kontinuierlich zugenommen. 

Damals gründete sich die auf dem europäischen Kontinent lange kaum wahrgenommene United Kingdom Independence Party (UKIP). Zwar konnte die UKIP in Wahlen nie viele Mandate erringen, doch reichte ihr wachsender Einfluss im britischen Mehrheitswahlrecht aus, den konservativen Tories zunehmend entscheidende Stimmen wegzunehmen. Bei der Unterhaus-Wahl 2010 war die UKIP schließlich so stark, dass die Tories die absolute Mehrheit im Parlament verfehlten. Dass diese sich unter ihrem eigentlich pro-europäischen Vorsitzenden David Cameron fortan EU-kritisch zeigten, war eine Reaktion auf die zunehmende EU-Skepsis im Lande. 

Gemeinsam mit dem liberalen niederländischen Regierungschef Mark Rutte, der in seinem Lande ebenfalls eine wachsende EU-Skepsis vernahm, überlegte Cameron, wie sich die Anti-Brüssel-Stimmung wieder in pro-europäische Bahnen lenken ließe. Beide entwickelten einen Reformplan für die Europäische Union, der unter anderem weniger Eingriffe und Vorgaben aus Brüssel, niedrigere EU-Ausgaben und wieder mehr Kompetenzen für die Mitgliedstaaten vorsah. 

Doch parallel zu Cameron und Rutte bastelte der deutsche EU-Spitzenbeamte Martin Selmayr an seinem eigenen Plan. Selmayr strebte den Aufbau einer „politischen EU-Kommission“ an, die ihr Mandat aus dem Europaparlament und durch ein Spitzenkandidaten-System bei den Wahlen bekommen und somit nicht mehr den Regierungen der Mitgliedstaaten verpflichtet sein sollte. Für diesen Plan war Jean-Claude Juncker der perfekte Kandidat. Die Wahl des Luxemburgers zum EU-Kommissionspräsidenten im Jahre 2014 bedeutete das Ende der Pläne von Cameron und Rutte. Als Cameron mit Juncker die Mitgliedschaft seines Landes neu verhandeln wollte, wurde er brüsk abgewiesen. Zwischen dem Erstarken der UKIP und der zunehmend zentralistischen EU blieb dem Premierminister keine andere Wahl, als sein Volk selbst entscheiden zu lassen, welchen Weg es gehen will. 

Wäre die EU 2014 auf Cameron und seinen Kollegen Rutte eingegangen, hätte es den Brexit vermutlich nicht gegeben. Doch Juncker & Co. gingen andere Wege.

Die Einseitigkeit der Medien 

Kritische Stimmen in der Öffentlichkeit brauchten sie kaum zu befürchten. Vielmehr schlugen sich die Medien – allen voran die deutschen öffentlich-rechtlichen – als es zum Referendum auf der Insel kam und ein heftiger Streit zwischen dem Pro-EU-Lager und den Brexit-Befürwortern ausbrach, fast ausnahmslos auf die Seite der EU-Anhänger. 

Natürlich wird niemand erwarten, dass die Sender offen Stellung gegen einen Staatenbund beziehen, dem das eigene Land angehört. Doch war es angesichts der knappen Meinungsumfragen erstaunlich, dass kaum jemand auf die Idee kam zu fragen, warum so viele Briten die EU verlassen wollten. Stattdessen wurden den deutschen Fernsehzuschauern fast ausnahmslos „pro-europäisch“ gesinnte Einwohner Londons und anderer Metropolen gezeigt. Und wenn doch einmal Befürworter des Austritts zu sehen waren, dann waren es meist Verlierer des gesellschaftlichen Wandels. Der Fortschritt, so die Botschaft, stand auf Seiten der EU.

Dass die Briten am 23. Juni 2016 für den Austritt ihres Landes aus der EU votierten, konnte folglich nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Entweder waren sie verantwortungslosen Verführern wie Boris Johnson, Jacob Rees-Mogg und Nigel Farage auf den Leim gegangen oder aber sie mussten sich ganz einfach verwählt haben. Vollkommen ausgeblendet wurde die Mitverantwortung der deutschen Regierung für das Brexit-Ergebnis: Dabei dürfte die unkontrollierte Migrationswelle, die im Zuge der Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin seit 2015 auch die Insel erreichte, angesichts des knappen Referendumergebnisses eine entscheidende Rolle in der Entscheidungsfindung der Briten gespielt haben. Doch statt ehrlicher Analysen kam schnell die Forderung nach einem zweiten Referendum auf. Was für ein Demokratieverständnis steckt hinter einer solchen Forderung?  

Mehr als fragwürdig verhielten sich die Spitzen in Politik und Medien auch in der Folgezeit. Als sich infolge des Referendums das politische Establishment Londons beinahe selbst zerstörte, wurde dies auf dem Kontinent wohlwollend zur Kenntnis genommen. Anstatt das Ergebnis einer demokratischen Volksabstimmung zu akzeptieren und mit der neuen Führung unter Theresa May die beste Lösung aus der Situation zu suchen, versuchte Brüssel, allen voran Chef-Unterhändler Michel Barnier, den Briten ihren Austritt aus der EU so schwer wie möglich zu machen. 

Seltene Denkanstöße

Einer der wenigen, die mit offenen Augen auf das britische Geschehen blickten, war der Londoner „FAZ“-Korrespondent Jochen Buchsteiner. In seinem Buch „Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie“ fragte er unter anderem, ob die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, gar nicht so irrational ist, wie es gemeinhin dargestellt wird, und ob in der britischen Unlust, den Argumenten „überzeugter Europäer“ zu folgen, womöglich sogar eine höhere Rationalität stecke. 

Buchsteiner sah in dem Brexit einen Angriff auf den europäischen Dreifachkonsens: dass die EU 1. als „immer engere Union“ permanent weiterzuentwickeln ist; dass es 2. die Nationalstaaten zu schwächen und nicht zu stärken gilt; und dass 3. aufgeklärte demokratische Gesellschaften ihren Wohlstand über die kulturelle Identität stellen. 

Zugleich hinterfragte der „FAZ“-Korrespondent den Umgang der EU mit den Briten. Schließlich gehe das Vereinigte Königreich nicht im Groll, es bettele geradezu um Zusammenarbeit. Warum, so Buchsteiner, reagieren die Europäer nicht souveräner und demonstrieren nach innen wie nach außen, dass sie jeden, der so töricht ist wie die Briten, mit einem mitleidigen Kopfschütteln ziehen lassen? 

Die Lösung des Konflikts

Doch derlei mahnende Stimmen blieben in der Minderheit. Ganz im Gegenteil nahmen die abschätzigen Kommentare über die Lage Großbritanniens noch einmal zu, als Boris Johnson – einer der Köpfe der Brexit-Bewegung – im Juli 2019 Premierminister wurde. 

Zugegeben: Johnsons Agieren entsprach kaum dem Stil eines Gentlemans. Nachdem die glücklose Theresa May hingeworfen und er sich im Gerangel um die Nachfolge durchgesetzt hatte, versuchte er sogleich, das renitente Parlament in einen verlängerten Zwangsurlaub zu schicken. Als das Oberste Gericht des Königreichs dieses Vorgehen für rechtswidrig erklärte, wurde dies in den hiesigen Medien unisono als „Klatsche“ und „Ohrfeige“ gewertet. Johnson wurde vorgeworfen, mit dem Unterhaus die Demokratie als Ganzes aushebeln zu wollen; den Parlamentariern freilich, die seit 2015 alles dafür taten, den Brexit durch Verfahrenstricks doch noch zu verhindern, wurde dieser Vorwurf nie gemacht. 

Als sich Johnson in Brüssel mit seinen Ideen für einen neuen Brexit-Deal eine Abfuhr einfing, wurde er in den Kommentaren als amateurhafter Trottel dargestellt. Als er einige Abweichler aus der eigenen Fraktion ausschließen ließ, avancierte er zum „kalten Machtpolitiker“. Und als er dann auch noch im Unterhaus mit seinen Anträgen auf Neuwahlen scheiterte, wurde ihm genüsslich das baldige Scheitern attestiert. Dass Johnson nach jeder Niederlage im Unterhaus fröhlich lächelte, wurde ebenso ignoriert wie die Frage, was den Mann eigentlich umtreibt. 

Und so bemerkten die Leitartikler und Kommentatoren nicht, dass Johnson mit jedem seiner Schritte nach und nach auch die Spielräume der anderen Akteure in Brüssel und London verkleinerte – und diese letztlich zu einem überarbeiteten Austrittsvertrag und zu Neuwahlen zwang. Stattdessen träumten sie bis kurz vor der Schließung der Wahllokale am 12. Dezember 2019 von einem Sieg des linken Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn. 

Doch noch nicht einmal als feststand, dass Johnson mit seinem konsequenten Pro-Brexit-Kurs das beste Wahlergebnis seit Jahrzehnten eingefahren hatte, und als klar wurde, dass der Brexit definitiv kommen wird, gingen die deutschen Leitmedien in sich. Stattdessen stellten sie umgehend Mutmaßungen darüber an, dass der Premierminister schon bald seine Wahlversprechen brechen könnte. 

Und nun?

Mit ihrer fortgesetzten Ignoranz gegenüber dem Willen einer Mehrheit der britischen Wähler waren die Verantwortlichen in Politik und Medien im gesamten Brexit-Prozess nicht nur erfolglos, sondern in ihrem eigenen Sinne geradezu kontraproduktiv. Eine Werbung für EU-Skeptiker, in dem Staatenbund zu bleiben, war ihr Verhalten gewiss nicht. Vor allem haben sie es in all den Jahren versäumt, darüber nachzudenken, wie sich die EU aufstellen müsste, damit ihre Kritiker aus Überzeugung verstummen. 

Die Unterhaus-Wahl im Dezember 2019 brachte zudem die Erkenntnis, dass die bürgerlichen Parteien der Mitte noch immer in der Lage sind, große Wahlerfolge zu erzielen – wenn sie auf den Willen ihrer Wähler hören und diesen konsequent in Politik umsetzen.