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03.01.20 / Schöpfer der „Schwebenden“ / Dem Rätselwesen Mensch auf der Spur / Bildhauer, Schriftsteller und Spökenkieker – Vor 150 Jahren wurde Ernst Barlach geboren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01 vom 03. Januar 2020

Schöpfer der „Schwebenden“
Dem Rätselwesen Mensch auf der Spur
Bildhauer, Schriftsteller und Spökenkieker – Vor 150 Jahren wurde Ernst Barlach geboren
Veit-Mario Thiede

Der am 2. Januar 1870 in Wedel bei Hamburg geborene Ernst Barlach bezog mit seiner Kunst Stellung. Denn er wusste, „dass das Gesicht in allen Dingen sich nicht enthüllt, wenn man selbst nicht sein Gesicht zeigt“. 

Das ist ihm jedoch nicht immer gut bekommen. In den 1920er Jahren schuf er eindrucksvolle Ehrenmale für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, die sogleich Anfeindungen ausgesetzt waren. Die Nationalsozialisten entfernten seine Werke aus Museen, Kirchen und dem öffentlichen Raum. Heute aber wird der 1938 gestorbene Barlach als einer der bedeutendsten deutschen Bildhauer des 

20. Jahrhunderts gefeiert. Auch als Grafiker und Schriftsteller tat er sich hervor.

Barlach bekannte: „Das Phänomen Mensch ist auf quälende Art von jeher als unheimliches Rätselwesen vor mir aufgestiegen. Ich sah im Menschen das Verdammte, gleichsam Verhexte, aber auch das Ur-Wesenhafte, wie sollte ich das mit dem landläufigen Naturalismus darstellen!“ Die Antwort ließ lange auf sich warten. Erst mit 36 Jahren fand er zur eigenen künstlerischen Handschrift. Seine auf das Wesentliche beschränkten Plastiken verkörpern Freude oder Not, Verzweiflung oder Zuversicht – und werden so zu Sinnbildern des „Rätselwesens Mensch“.

Und wie wird Barlach selbst gesehen? Der zeitgenössische Kunstkritiker Karl Scheffler urteilte: „Der erste Eindruck schon ließ einen Außenseiter und ein Original erkennen.“ Der Kunsthistoriker Wolfgang Tarnowski charakterisiert ihn in seinem aktuellen Buch „Auf den Spuren von Ernst Barlach“ als „intelligent, hochsensibel, ahnungsvoll (ein ,Spökenkieker‘, wie man in Norddeutschland sagt), dabei ernst, unruhig bis nervös, oft Stimmungen unterworfen, scheu und misstrauisch“. Die Güstrower beargwöhnten ihn als Sonderling. Er hatte sich 1910 mit seinem unehelichen Sohn aus Berlin in die ehemalige mecklenburgische Residenzstadt zurückgezogen, um un­gestört arbeiten zu können. Hier lernte er das Bildhauerehepaar Bernhard und Marga Böhmer kennen, das sich 1927 scheiden ließ. Marga wurde Barlachs Lebensgefährtin. In ihrem Haus am Inselsee bezog er die Dachwohnung und erbaute auf dem Nachbargrundstück sein Atelierhaus.

Käthe Kollwitz als Modell

Heute ist das Atelierhaus Sitz der Ernst-Barlach-Stiftung. Sie betreut den Nachlass, präsentiert Sonderausstellungen im benachbarten Graphikkabinett und bietet im Atelierhaus einen Überblick über Barlachs Plastiken. Da vermittelt der auf zwei Krücken gestützte „Bettler“ (1930) mit nach oben gerichteten Augen Gottvertrauen, während der „Singende Mann“ (1928) Lebensfreude verkörpert. Den „Träumer“ (1925) ließ sich Barlach ans Sterbebett stellen. Werkmodelle geben Einblick in den Entstehungsprozess von Großplastiken wie die des im Magdeburger Dom aufgestellten Ehrenmals. Von den drei hinter einem Grabkreuz stehenden Soldaten ist der linke vor Schrecken erstarrt, der mittlere stiert uns verängstigt an und der rechte scheint zu zittern. Die drei Halbfiguren unter ihnen verkörpern Trauer, Tod und Entsetzen.

Barlachs für Magdeburg, Kiel, Hamburg und Güstrow geschaffene Ehrenmale waren unerhört neuartig. Denn sie sind Denkzeichen und Mahnmale gegen Krieg und Gewalt. Das aber kam bei vielen Zeitgenossen nicht gut an. Sie wollten lieber den heldenhaften Soldatentod gefeiert wissen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten dauerte es nicht lange bis zur Entfernung der Ehrenmale. Der Kieler „Geistkämpfer“ und das Magdeburger Ehrenmal blieben immerhin unversehrt. Das zerstörte Relief des Hamburger Ehrenmals befindet sich als Rekonstruktion und der zu Kriegszwecken eingeschmolzene „Schwebende“ des Güstrower Doms als Nachguss heute wieder am alten Platz. Die Gesichtszüge der Bronzegestalt des an Ketten vom Gewölbe hängenden „Schwebenden“ erinnern an die von Käthe Kollwitz, die im Ersten Weltkrieg einen Sohn verlor. Barlach sagte über seine künstlerische Absicht: „Es galt, eine schwer ruhende Unbeweglichkeit als Ausdruck nie versiegenden Grams, hängend, weil der irdischen Bedingtheit entrückt“ im Dom zu platzieren.

Seit 1953 ist Güstrows gotische Gertrudenkapelle stimmungsvolle Barlach-Gedenkstätte. Sie beherbergt Plastiken. „Das Wiedersehen“ (1926) zeigt die Begegnung des ungläubigen Jüngers Thomas mit dem auferstandenen Christus. Ein Bronzeexemplar der Figurengruppe stellten die Nationalsozialisten 1937 in der Schau „Entartete Kunst“ an den Pranger. In dieser Zeit der persönlichen Anfeindungen und der Bekämpfung seines Schaffens verlieh Barlach der Figur des „Wanderers im Wind“ (1934) seine Gesichtszüge. Unbeirrt schreitet er trotz Gegenwind seiner Bestimmung gemäß auf dem Lebensweg voran.