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03.01.20 / Syrien-Krieg und Asylkrise / „Sie lernen erlogene Sätze auswendig, um ein Visum zu bekommen“ / Der Direktor der französischen Hilfsorganisation „SOS Chrétiens d‘Orient“, Benjamin Blanchard, bringt Licht ins Dunkel von Legenden, Propaganda und Blendwerk rund um den Syrien-Konflikt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 01 vom 03. Januar 2020

Syrien-Krieg und Asylkrise
„Sie lernen erlogene Sätze auswendig, um ein Visum zu bekommen“
Der Direktor der französischen Hilfsorganisation „SOS Chrétiens d‘Orient“, Benjamin Blanchard, bringt Licht ins Dunkel von Legenden, Propaganda und Blendwerk rund um den Syrien-Konflikt
Eva Michels

Die Kriege in Syrien und im Irak haben die christliche Minderheit stark dezimiert. PAZ-Korrespondentin Eva Michels sprach in Paris mit Benjamin Blanchard, dem Direktor der französischen Hilfsorganisation „SOS Chrétiens d‘Orient“, über die Lage und die Aussichten der orientalischen Christen, über eine verlogene Asylpolitik und die Hoffnung in der Region auf Frieden.

PAZ: Was können Sie mir zur aktuellen Lage in Syrien und im Irak, insbesondere in Bezug auf die Christen erzählen? 

Benjamin Blanchard: Grundsätzlich ist die Situation heute sowohl im Irak als auch in Syrien wesentlich besser als 2012 bis 2015. Seit dem Abzug der Amerikaner wird nur noch im Nordosten und Nordwesten Syriens gekämpft.

PAZ: Offiziell ist der Islamische Staat (IS) besiegt. Bleibt seine Ideologie in der sunnitischen Bevölkerung verankert, oder war er ein ausländischer Export? 

Blanchard: Die Ausbreitung von Wahhabismus, Salafismus, Muslimbruderschaft findet schon seit Langem statt. Unter dem ehemaligen syrischen Präsidenten Hafiz al-Assad wurden unglaublich viele Moscheen gebaut. Es war seine Art, sozialen Frieden zu erkaufen. Unter dem aktuellen Präsidenten wurden die Medien liberalisiert. Heute kann jeder al-Jazeera oder al-Arabija empfangen, die diese Ideologien verbreiten. Doch während die radikalsten Syrer heute unter den sieben Millionen Flüchtlingen im Ausland zu finden sind, sind sie im Irak im Landesinneren. Es gibt dort keinen funktionierenden Zentralstaat mehr. Die Organisation des IS kam mehrheitlich aus dem Ausland. 

PAZ: Was können Sie zu den syrischen Kurden sagen?

Blanchard: Die YPG (Volksverteidigungseinheiten) sind der militärische Arm der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die von Abdullah Öcalan geleitet wird und in Europa als terroristische Vereinigung gilt. Sie ist eine terroristisch-separatistische, marxistisch-leninistische Gruppierung, die man der westlichen Öffentlichkeit als Demokratische Kräfte Syriens (DKS, Syrian Democratic Forces, SDF, QSD) verkauft.

PAZ: Was sind die Ziele der YPG-PKK?

Blanchard: Die YPG-PKK will nicht komplett unabhängig werden, weil sie sonst von den Türken plattgemacht wird. Sie führte vor den Augen Frankreichs und der USA, ihrer Schutzmächte, ethnische Säuberungen an den Arabern und den Christen, hauptsächlich nicht arabischsprachigen Armeniern, Syrisch-Orthodoxen und Chaldäern, durch und versucht nun, die Bevölkerungsmehrheit zu stellen. Ursprünglich waren nur 30 Prozent der Bevölkerung im Norden Syriens Kurden.

PAZ: Sind die Kurden nicht ein wichtiger Verbündeter gegen den IS?

Blanchard: Gegen die Islamisten kämpfte die YPG-PKK-DKS tapfer, insbesondere in der Schlacht von Aïn al-Arab, auf Kurdisch Kobané, und an einigen anderen Orten. Wenn der IS Christen angriff, wie im Khabbour-Tal, ließen sie ihn jedoch weitestgehend gewähren.

PAZ: Welche Konsequenzen hat jetzt die türkische Offensive für Syrien?

Blanchard: Durch die amerikanische Anwesenheit wurde der Konflikt im Nordosten eingefroren. Nun hat der Abzug eine Kettenreaktion ausgelöst: Die Türkei geht massiv gegen die YPG-PKK-DKS vor, die sich nun wieder der syrischen Regierung zuwendet. Diese hat bisher den Kurden den Schutz verweigert wegen des Verrats 2013. Nun bittet Assad die Russen um Vermittlung.

PAZ: Will Erdogan nur die PKK zerstören, oder will er auch die Christen verjagen?

Blanchard: Die Türkei verfolgt mehrere Ziele. Erstens die Entwaffnung der kurdischen Milizen, das zweite Ziel ist die Schaffung einer Zone unter türkischer Kontrolle zur Ansiedlung der 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge, die gegenwärtig auf türkischem Boden sind. Die Christen, die vor allem in den Städten Hassaké, Qamishli und Malkieh leben, sind von der türkischen Offensive bisher kaum betroffen. In keiner Region Syriens ging ihre Anzahl seit 2011 stärker zurück, doch dies ist vor allem der Kurdisierungspolitik der YPG-PKK geschuldet, die für die meisten Christen unerträglich war.

Erdogan benutzt Dschihadisten als Infanterie. Diese Hilfstruppen kämpfen in Syrien seit 2012 innerhalb von den Muslimbrüdern nahestehenden Gruppen, die nicht nur von der Türkei und Katar unterstützt werden, sondern bis vor Kurzem auch von den USA und mehreren westlichen Staaten, insbesondere Frankreich unter François Hollande. Noch heute gewähren die USA den Weißhelmen, dem humanitären Ableger von al-Nusra, dem syrischen Ableger von al-Kaida, Hilfen in Höhe von 4,5 Millionen US-Dollar.

PAZ: Wird sich die Türkei aus Nordsyrien zurückziehen oder dort langfristig bleiben?

Blanchard: Der syrische Präsident Baschar al-Assad versichert, dass er das gesamte Land zurückerobern werde. Der russische Präsident hat kürzlich bekräftigt, dass Russland die Souveränität und die territoriale Unversehrtheit der Syrischen Republik anstrebe. 

PAZ: Es besteht also Hoffnung, dass der Krieg in Syrien zu Ende geht?

Blanchard: Ja, er scheint langsam seinem Ende entgegenzugehen. 

PAZ: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen den syrischen Christen und der Hisbollah? Im Libanon unterstützt ja ein Teil der Christen die Hisbollah aktiv.

Blanchard: Die Hisbollah hat viele christliche Dörfer befreit. Deshalb sind ihr die Christen in Syrien, wo es weniger als ein Prozent Schiiten gibt, dankbar. Im Irak sind 60 Prozent Schiiten. Sobald die Hisbollah dort ein Dorf einnimmt, errichtet sie eine Moschee, eröffnet Büros der Schiitenpartei, Koranschulen. Aus der schiitischen Großstadt Basra ziehen die Christen weg. Sie sind zwar keiner Gewalt ausgesetzt, können aber nicht arbeiten.

PAZ: Ist die syrische Revolution Ihrer Meinung nach etwas, das aus dem Ausland importiert wurde, oder gab es eine echte Unzufriedenheit im Lande?

Blanchard: In Syrien gab es sicherlich große soziale Veränderungen, denn das Land erlebte in den letzten zehn Jahren unter Assad ein starkes Wirtschaftswachstum, private Unternehmen und Banken wurden zugelassen. Das Bildungsniveau war sehr hoch, und die Medien wurden liberalisiert. Doch natürlich gab es auch Verlierer. Diese Menschen waren für radikale Ideen empfänglich.

Doch auch die Allianzen Syriens spielten eine Rolle. Syrien war mit der Türkei und Katar verbunden. Die königliche katarische Familie verbrachte ihre Ferien in Syrien, und sie investierte viel Geld. Viel-leicht gab es Abkommen, dass Katar als Gegenleistung für die Investitionen Imame in die Moscheen senden durfte. 

Die Revolution wurde von langer Hand vorbereitet: Sehr viele Waffen gelangten in den Jahren vor dem Krieg nach Syrien, obwohl Partei und Bevölkerung von sechs Geheimdiensten sehr streng überwacht wurden. Neben der Versuchung des schnellen Geldes durch Schmuggel muss eine Unterwanderung der Geheimdienste und von Assads Baath-Partei durch Muslimbrüder und Salafisten ursächlich sein, damit Kriegswaffen ins Land gelangen konnten. Geheimdienste und Partei sind repräsentativ für die Gesellschaft, die zu 80 Prozent aus Sunniten besteht. Die Obersten sind zwar eher Alawiten, aber die lokalen Chefs und Mitarbeiter sind Sunniten. Die Tatsache, dass die Aufstände immer in Grenznähe begannen, beweist die Auslandsverbindung der Rebellen. 

PAZ: Assad muss aber eine gewisse Beliebtheit im Lande genießen, wenn er nach all den Jahren immer noch an der Macht ist.

Blanchard: Assad war nicht schwach, sondern hatte die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung. Es gelang ihm, den Aufstand extrem brutal niederzuschlagen und zugleich durch geschickte Verhandlungen seine internationalen Allianzen mit Russland und dem Iran zu festigen. Ohne diese Allianzen hätte die syrische Regierung mit Sicherheit den Krieg verloren. Zudem gibt es in Syrien einen richtigen, funktionierenden Staat. Selbst während des Krieges liefen zum Beispiel die Müllabfuhr, die Elektrizitätswerke – auch wenn es insgesamt wenig Elektrizität gab – und die Schulen normal weiter. Sogar in den Zonen des IS wurden die Lehrer weiterbezahlt und unterrichteten. Diese Verwaltungsstruktur hat dazu beigetragen, dass der Staat den Krieg überlebte.

PAZ: Glauben Sie an die Rückkehr der Flüchtlinge nach Syrien und in den Irak?

Blanchard: Die 1,5 Millionen Syrer im Libanon müssen zurückkehren, weil sie den Libanon destabilisieren. Die Regierung ist darüber wahrscheinlich nicht glücklich, aber es sind Syrer. Ob diejenigen, die in der Türkei sind, wiederkommen, weiß ich nicht. Die Türkei ist zufrieden mit der aktuellen Situation. Die Flüchtlinge sind eine starke Wechselwährung. Sie fordern Geld und können sie nach Europa losschicken, wenn es ihnen passt, und dort Panik verbreiten. Diejenigen, die in Europa sind, werden nie wieder heimkehren. Für die Iraker sieht es etwas anders aus: In den meisten Fällen sind sie schon zu lange vertrieben, um zurückzukehren. Eventuell werden diejenigen, die aus mehrheitlich christlichen Städten wie Karaqosh kommen, zurückkehren. Doch wenn sie aus Mossul stammen, wo die Christen zehn Prozent der Bevölkerung ausmachten, kehren sie nicht zurück. Sie haben Angst und keine Zukunft. Es waren ihre Nachbarn, die sie vertrieben.

PAZ: War es grundsätzlich eine gute, humanitäre Idee, die Flüchtlinge nach Europa zu holen?

Blanchard: Es ist falsch, anlässlich der großen Einwanderungswelle 2015 von syrischen Flüchtlingen zu sprechen. Sie kamen aus der Türkei, wo sie seit mehreren Jahren im Frieden und ohne Gefahren lebten, oder aus Damaskus, Tartus oder Latakia, das heißt aus Gegenden, die kaum vom Krieg betroffen waren. Ich habe viele Familien gefragt, warum nur Männer kommen. Sie antworteten alle, dass sie als Familie nicht das Risiko einer Überfahrt über das Mittelmeer eingehen würden. Weil es aufgrund der Wirtschaftssanktionen in Syrien aber keine Arbeit und damit kein Geld mehr gibt, ziehen die Männer alleine los, während ihre Familien in Syrien in Sicherheit sind.

PAZ: Müssten die europäischen Staaten ihre Asylpolitik ändern?

Blanchard: Unsere Kriterien für die Aufnahme von Flüchtlingen beruhen auf Lügen. Die offiziellen Reden bei Asylanträgen sind genau das Gegenteil der Realität. Im Irak sind viele Syrer, die Syrien aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben und nun Visa für Australien und so weiter beantragen. Wir kennen die Dörfer, aus denen diese Syrer kommen. Sie lernen erlogene Sätze auswendig, die ihnen beigebracht werden und mit denen sie ihre Chancen auf ein Visum erhöhen. Nicht der IS verfolgt sie demnach, sondern die Alawiten – selbst wenn sie aus Gegenden kommen, in denen es absolut keine Alawiten gibt. Ich habe Menschen aus Mharde gesehen, einer 100-prozentig christlichen Stadt, in der die Mädchen bis nachts drei Uhr im Minirock herumlaufen und Alkohol trinken, die erklärten, dass sie nach 20 Uhr nicht mehr vor die Haustür gehen könnten, weil die Alawiten sie verfolgten. Unglaublich, denn bei den Alawiten ist donnerstags und freitags Nacht immer bis drei Uhr Party.