Um Rudolf Borchardt blieb es lange Zeit still. Der Königsberger Autor, der vor 75 Jahren in Tirol starb, drohte nach und nach in Vergessenheit zu geraten. Schon zu Lebzeiten war er mit seinen Gedichten, Essays, poetischen Erzählungen und Übersetzungen unter anderem von Dante Alighieris „Vita Nuova“ nur wenigen Lesern bekannt. Dafür hatte sich der Ostpreuße, der allerdings schon als Fünfjähriger mit der Familie nach Berlin zog und ab 1903 in der Toskana lebte, einen Zirkel von Bewunderern geschaffen.
So erkannte Hugo von Hofmannsthal in dem Dichterkollegen und Philologen, der auf Lateinisch zu dichten und mittelalterliche Wortkaskaden mit proletarischen Satzkatarakten zu vermengen verstand, dass sich in Borchardt „eine philologisch-historische Begabung höchsten Ranges, wie sie kaum einmal im Jahrhundert auftaucht, mit einer dichterischen Sendung verschwistert“.
Im Grunde hat sich bis heute daran nichts geändert. Es gibt weiterhin einen festen Freundeskreis, der das Andenken dieses elitären Wortzauberers und Befürworters einer konservativen Erneuerung – um nicht zu sagen: Revolution – hochhält. Einer von ihnen ist Gerhard Schuster, der Leiter des Münchener Borchardt-Archivs, ein anderer Heribert Tenschert, der im Schweizer Kanton Schaffhausen ein Handschriften-Antiquariat betreibt. Letzterer finanziert die auf 20 Bände geplanten „Sämtliche Werke“ Borchardts in der Edition Tenschert. In diesem Rahmen hat Schuster im Hanser-Verlag acht Briefbände des Autors und im Jahr 2018 bei Rowohlt einen sensationellen Roman-Fund aus Borchardts Nachlass herausgebracht: „Weltpuff Berlin“.
Vom Umfang her müsste man den über 1000-seitigen Roman als Borchardts Hauptwerk bezeichnen. Dabei hat sich der Autor, als er das Werk 1938/39 in Italien schrieb, nie darüber geäußert. Niemand wusste von der Existenz des Manuskripts, bis Schuster es 2011 im Marbacher Literaturarchiv, wo Borchardts Nachlass verwahrt ist, entdeckte. Als die 70-jährige urheberrechtliche Schutzfrist auslief, konnte er es veröffentlichen.
Das Buch ist, sagen wir es frei heraus, ein Porno. Der Ich-Erzähler, der Borchardts Namen trägt, treibt es im Berlin des Jahres 1901 von einem Höhepunkt zum nächsten. Ein D.H. Lawrence oder Henry Miller hätte nicht freimütiger über das Sexleben erzählen können. In „MeeToo“-Zeiten ist solch ein Buch geradezu eine mutige Provokation. Das Werk war für Borchardt wohl eher eine seelische Befreiung. Der Mussolini-Verehrer war bis zum Ende des Faschismus in Italien als Jude einigermaßen geschützt. Vor einem Abtransport war er aber nie sicher. Am 10. Januar 1945 starb er in einem Versteck nahe Steinach in Tirol.
Lektürehinweis „Weltpuff Berlin“ ist im Rowohlt Verlag als Band XIV der „Sämtlichen Werke“ in zwei Teilbänden mit Kommentar (1184 Seiten, 128 Euro) sowie als Einzelband ohne Kommentar (1086 Seiten, 35 Euro) erschienen.