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10.01.20 / Reisen in die Heimat / Ostpreußen im Winter - Ein Traum in Weiß / Eindrücke einer kleinen Reisegruppe, die bei Eis und Schnee ins nördliche Ostpreußen aufbrach

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02 vom 10. Januar 2020

Reisen in die Heimat
Ostpreußen im Winter - Ein Traum in Weiß
Eindrücke einer kleinen Reisegruppe, die bei Eis und Schnee ins nördliche Ostpreußen aufbrach
Gabriele Bastemeyer

Seit Jahren ist in mir der Wunsch gewachsen, das Land meiner Vorfahren einmal im Winter zu erleben, bei Schnee und Eis. Ich habe mich deshalb riesig gefreut, dass mich Bärbel Dawideit und Wolfgang Nienke im Auto mitgenommen haben.

Am 1. Februar 2019 morgens um 5.30 Uhr ging das Abenteuer in Tellschütz-Zwenkau bei Leipzig los. Ich hatte mir wegen des Winterwetters Sorgen gemacht, aber die Straßen waren überall geräumt, in Deutschland, in Polen und in Russland. Über Deutsch Krone [Walcz] und Jastrow ging es Richtung Osten. In Schlochau machten wir Pause in einem sehr schönen Restaurant. Ich habe dort Kartoffelpuffer mit saurer Sahne gegessen und leckeren Cappuccino getrunken. Bei Heiligenbeil haben wir die polnisch- russische Grenze problemlos schnell hinter uns gebracht. Erst auf dem letzten Stück der Fahrt, kurz vor Heinrichswalde, wurde die Straße winterlich glatt. Und so kamen wir nach zwölfeinhalb Stunden Fahrt um 16 Uhr MEZ und 17 Uhr Heinrichswalder Zeit, in Heinrichswalde [Slawsk]an. Unser Quartier bei Nadja und Alik lag in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses von Heinrichswalde in einer ruhigen Nebenstraße. Wir wurden wunderbar von Nadja bewirtet, wie schon bei meinem Besuch im Jahr 2015. Gegen meinen Husten bekam ich sofort einen Lindenblütentee mit Honig. Wir warteten am Abend dieser langen Tagesreise noch bis um Mitternacht auf Dieter Wenskat, den Kirchspielvertreter für Kreuzingen und Gowarten, der eigentlich zeitgleich mit uns ankommen wollte. Wir hatten keine Nachricht von ihm und machten uns große Sorgen.

Am nächsten Tag hatten wir uns mit Lidia, unserer Dolmetscherin, und mit Wjatscheslaw Kent, dem Leiter des Museums, in der Friedrichstraße verabredet. Herr Kent zeigte uns seine Schätze, von der alten Schulbank über steinerne Kanonenkugeln (gefunden bei Kaukehmen/Kuckerneese) bis zu Brotkarten und anderen Dokumenten des 20. Jahrhunderts. Anschließend waren wir in der nahegelegenen Kirche, in der mein Großvater Ernst Loerke 1878 getauft wurde. Vom Wohn- und Geschäftshaus seiner Eltern, des Kaufmanns Louis Loerke und der Köllmertochter Friederike Lessing, in der Friedrichstraße 66, musste man nur über die Straße gehen - schon war man am großen Eingangsportal der evangelischen Kirche. In der Kirche stieg ich mit Herrn Kent die Holztreppe nach oben. Der Blick auf das Kirchenschiff in seiner ganzen Größe ist überwältigend, aber danach habe ich Angst, nie mehr nach unten zu kommen auf dieser wackeligen „Hühnerleiter“.

Es wurde zum zweiten Mal Abend seit unserer Ankunft in Heinrichswalde. Dieter war immer noch nicht da. Unsere Sorgen wurden immer größer. Letzte empfangene Nachricht: Man lässt ihn mit seinen vielen Hilfsgütern nicht nach Russland einreisen. Seit dem 1. Januar 2019 darf man nur noch 25 Kilogramm pro Person nach Russland einführen- und das inklusive eigenem Gepäck! Dann stand Dieter kurz vor 20 Uhr strahlend in der Tür. Mit Honigschnaps und süßem Sekt begossen wir unser aller Erleichterung.

Die Folge war bei mir am nächsten Morgen: ein Brummschädel. Um zehn Uhr waren wir zum Gottesdienst im Gemeindehaus in der Leninstraße eingeladen. Er wurde von Lidia Lobakina und Wolfgang Nienke gestaltet und mit Musik untermalt, gespielt von der ehemaligen Direktorin der Musikschule. Mir fiel auf, wie sauber und adrett die Heinrichswalder gekleidet waren. Ich wurde an meine Kindheit und alte Fotos von damals in „Sonntagskleidung“ erinnert. Mir wurde zum ersten Mal bewusst, dass diese Zeit bei uns vorbei ist. Bezüglich der Kleidung geht es bei uns in Deutschland doch recht lässig zu, mit Ausnahme von besonderen Festlichkeiten. Nach dem Gottesdienst tagte der Kirchenverein. Von den 37 Mitgliedern waren 

13 anwesend. Danach waren wir zu einem kleinen Imbiss eingeladen. Auch in der Küche des Gemeindehauses war alles supersauber und ordentlich.

Um 15 Uhr ging unser Programm weiter. Wir fuhren zum Kaffeetrinken zu Schwester Barbara und Schwester Helena in das Kinderheim in der Offiziersstraße. Sie leben dort noch mit sechs Kindern zusammen. Die anderen sind inzwischen schon selbstständig und ausgezogen. 

Am nächsten Morgen, dem 4. Februar 2019, war alles weiß. Über Nacht waren 15 Zentimeter Neuschnee gefallen. Auf meinen Wunsch hin machen wir uns auf die Suche nach der einstigen Mennonitenkirche der Memelniederung in Adlig Pokraken. Die Kirche lag malerisch in einem Bogen der Schalteik (Große Selse) im Ort Grietischken, der von 1938 bis 1945 Grieteinen genannt wurde. Schon seit dem Jahr 1831 trafen sich die Mennoniten hier zum sonntäglichen Gottesdienst, parallel dazu auch in Plauschwarren. Seit 1893 fanden die Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen der Mennoniten der Memelniederung und der sonntägliche Gottesdienst nur noch in Adlig Pokraken statt.

Heute ist dort nichts mehr vom ehemaligen Gotteshaus zu sehen. Wir hielten auf der Straße, die nach Pokraken (Weidenau) führt, und stapften auf der linken Straßenseite durch einen Graben und hohen Schnee. 1948 hat die Mennonitenkirche noch gestanden. Niemand weiß, wann sie endgültig verschwand, wann der letzte Stein abtransportiert wurde und mit ihm ein wichtiges Kapitel der Geschichte der Mennoniten, die sich aus der ganzen Memelniederung hier regelmäßig mit ihren Pferdefuhrwerken einfanden.

Weiter ging es nach Pokraken, von 1938 bis 1945 Weidenau und heute Leninskoje genannt, zur Ruine der evangelischen Kirche. Sie also steht wenigstens noch. Ich habe eine besondere Beziehung zu ihr, denn mein Ur-Ur- Großvater Johann Albert Lepa (1825–1892) war hier nicht nur 

38 Jahre lang königlicher Schullehrer, sondern auch der erste Präzentor der Kirchengemeinde Pokraken. Er soll maßgeblich zum Bau dieser Kirche beigetragen haben, deren Vollendung er nicht mehr erlebte. Das Kirchendach ist schon lange eingestürzt, der Rest hält sich beharrlich und sieht schneebedeckt heute malerisch aus, umgeben von weißgepuderten Bäumen.

Zurück in Heinrichswalde, ging ich nachmittags mit Bärbel Dawideit auf eisglatten Wegen in Richtung Friedrichstraße, an der damals wie heute fast alle Geschäfte des Ortes liegen. So ähnlich wie im heutigen Slawsk wird es im Winter auch damals in Heinrichswalde ausgesehen haben, als mein Großvater, der spätere Oberkonsistorialrat Ernst Loerke (1878–1947), als kleiner Junge, der viel zu früh beide Eltern verloren hatte, hier entlangging.

Am nächsten Morgen wurde es abenteuerlich. Wir fuhren mit unserem Gastgeber Alik Mikschta in seinem VW-Bus zum Kurischen Haff. Es ging über Brittanien und die Gilgebrücke bei Sköpen. Dort steht keine Wache mehr, aber es kann jetzt im grenznahen Bereich überall Kontrollen geben. Wir sahen Militär an uns vorbeifahren, wurden in dem Auto mit russischem Kennzeichen jedoch nicht kontrolliert. Vorbei ging es an Kaukehmen (Kuckerneese), an Wolfgang Nienkes Heimatort Kallningken (Herdenau), der früher von der Kirche auf ihrem Hügelchen neben der Straßenkreuzung beherrscht wurde. Heute liegen dort nur noch wenige traurige Mauerreste. Dann kamen wir im Elchwald vorbei, am „Jagdschloss“ Pait, das leider wohl wieder dem Verfall preisgegeben ist, nachdem sich Jürgen Leiste von dort zurückgezogen hat. Einsam und malerisch liegt es in der Einsamkeit, aber auch die Schneedecke konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass eins der Dächer nicht mehr dicht ist.

Dann kamen wir in Inse an, parkten nahe am Schilf noch hinter dem Sturmmast, wo Autos im Sommer gar nicht mehr fahren können. Nun standen dort auf der gefrorenen Fläche die Autos der Eisangler. Von der Schönheit der Landschaft sah ich zunächst nichts, denn auf dem vereisten Weg war es spiegelglatt. Wir sahen Anhäufungen von übereinandergeschobenem Eis und in weiter Ferne auch die Eisangler als kleine Punkte in der Landschaft. Erst auf dem Rückweg genoss ich, ziemlich erleichtert, die magische, fast schon mystische Stimmung dieses Wintermorgens mit einer fahlen Sonne, die sich über der unendlichen Weite im Eis des zugefrorenen Haffs spiegelte. Es war ein unvergessliches Erlebnis für mich. Als wir durch das Fischerdorf Inse fuhren, zeigte mir Bärbel Dawideit den Fundort des Taufsteins aus der Kirche von Inse [Pritschaly], der heute in Heinrichswalde im Gemeindehaus steht. 

Das Abenteuer ging weiter. Auf der Suche nach einem Elch oder wenigstens Elchspuren fuhren wir wieder über Groß Krauleiden zurück und hielten dann beim ehemaligen Hebewerk von Rogainen/Forstamt Sibirien. Die Straße lag auf einem angeschütteten Damm. Es war sogar auf der Straße anstrengend, im Schnee zu Fuß voranzukommen. Wir sahen leider keinen Elch. Ich kehrte vorzeitig um und ließ die Einsamkeit der Landschaft auf mich wirken. In Höhe des Hebewerks stand ein Fischreiher malerisch am Wasser.

Auf dem Rückweg nach Heinrichswalde hielten wir noch kurz bei der ehemaligen Schule von Bogdahnen/Bolzfelde [Werchnij Bisser]. Eigentlich unfassbar, dass sie fast 75 Jahre nach Kriegsende so gut erhalten ist und unerschütterlich dort steht.

Am nächsten Tag, dem 6. Februar, brachen wir noch einmal hoffnungsvoll auf zur „Elchpirsch“. Dieses Mal ging es in das Große Moosbruch mit einer Fahrt über Klemenswalde, Neusorge [Maskoje] und Groß Friedrichsdorf und dann weiter über Liedemeiten (Gerhardsweide im Kirchspiel Kreuzingen [Ochotnoe] nach Osseningken (Grünau). Vor einem auffallend schönen alten Haus, 1912 erbaut, trafen wir einen Armenier, der dort wohnt und Jäger ist. Er gab unserem Fahrer Alik Tipps für die Suche nach Elchspuren. Dieter Wenskat meinte, das hübsche Haus sei früher das Haus des Bauern Buttkus gewesen.

Bei Wasserburg gingen wir Fünf – Barbara Dawideit, Wolfgang Nienke, Dieter Wenskat, Alik und ich – auf einem verschneiten Damm in den Wald. Ich kehrte nach einer halben Stunde um und wartete im Wagen auf die eifrigen „Jäger“. Nahe Lauknen (Hohenbruch) hielten wir dann noch einmal. Im Naturschutzgebiet des Großen Moosbruch starteten wir für den Tag einen letzten Versuch, marschierten wieder durch den Schnee, neben uns Moor, Birken und Gesträuch. Nur kein Elch! Wir gingen bis zu einem Hochsitz und schönen bunten Schautafeln zur Geschichte dieser Region und Landschaft, mitten in der Einsamkeit. In Lauknen [Gromowo] fuhren wir noch beim Moosbruchhaus von Jürgen Leiste vorbei. Wir hatten Glück, ihn anzutreffen, denn er wollte gerade aufbrechen.

Das Thema Elch verließ uns nicht. Am nächsten Tag, dem 7. Februar, wurde der lebensgroße Elch von Alik Mikschta in einem feierlichen Vertrag den Bewohnern der Gemeinde Slawsk übergeben. Anschließend wurden wir vom Landrat des Rajon Slawsk zum Festessen im Bankettsaal seiner Gaststätte eingeladen, der in Sichtweite der Kirche liegt. Abends ging es feierlich weiter, denn Wolfgang verwöhnte uns mit einem Risotto.

Am Freitag fuhren wir über Tilsit entlang der Ragniter Straße, wo meine Urgroßmutter Maria Lepa geb. Schulz (1860–1946) nach ihrer Scheidung vom Arzt Lepa ein recht armseliges Leben führte und am Fenster zur Straße hin Socken zur Aufbesserung ihres Lebensunterhalts strickte, nach Ragnit. Im „Deutschen Haus“ ging es in den großen Räumlichkeiten recht übersichtlich zu. Ich genoss meine Blinis und einen Cappuccino. Gegenüber vom „Deutschen Haus“ besuchten wir einen kleinen Kaufmannsladen. Vom Embargo der EU ist nichts zu spüren. Es sieht eher so aus, als ob im Land die Chance genutzt wird, in mehr Eigeninitiative neue wirtschaftliche Möglichkeiten auszuschöpfen. 

In Ragnit sind die Straßen noch vereister und glatter als in Heinrichswalde. Natürlich besuchten wir wieder einmal die Burgruine Ragnit. Im Schnee kannte ich das geschundene, immer noch eindrucksvolle Bauwerk, noch nicht. Der große neue Grenzübergang bei Ragnit lag weiterhin ungenutzt brach.

Am Samstag, dem 9. Februar, ging es zurück nach Hause. Um 5.40 Uhr russischer Zeit starteten wir und kamen nach 13 Stunden wieder gut in Zwenkau an. Am nächsten Morgen hatte ich Zeit, ein Resümee dieser neun Tage in der winterlichen Elchniederung zu ziehen. Trotz meiner ständigen Hustenanfälle war es ein tolles Erlebnis für mich.