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17.01.20 / „Dystopien“ der Weltliteratur / Was Orwell, Huxley und Co. erschreckend richtig vorhersahen / In ihrer Gegenwart galten sie als Schwarzmaler. Doch vieles von dem, was die Warner des 20. Jahrhunderts vorausgesagt haben, wird mehr und mehr zur bitteren Wirklichkeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03 vom 17. Januar 2020

„Dystopien“ der Weltliteratur
Was Orwell, Huxley und Co. erschreckend richtig vorhersahen
In ihrer Gegenwart galten sie als Schwarzmaler. Doch vieles von dem, was die Warner des 20. Jahrhunderts vorausgesagt haben, wird mehr und mehr zur bitteren Wirklichkeit
Wolfgang Kaufmann

Lange bevor der englische Humanist Thomas More zum Lordkanzler 

Heinrichs VIII. aufstieg, veröffentlichte er im Dezember 1516 seinen Roman „Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia“, in dem er eine fiktive Idealgesellschaft beschrieb. Das Buch erwies sich als so wirkmächtig, dass hernach alle Schriften zur gleichen Thematik als „Utopien“ bezeichnet wurden. Später entstand im Zuge des Fortschreitens der industriellen Revolution zum Ende des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts eine weitere Literaturgattung, welche ausdrücklich als Gegenentwurf zur Utopie gedacht war: die „Dystopie“. Statt der Hoffnung auf Besseres wie bei More obsiegte hier der umfassend pessimistische Blick aufkommende Zeiten.

Als eine der ersten Dystopien gilt der 1826 erschienene apokalyptische Roman „The Last Men“ (deutscher Titel: Verney, der letzte Mensch) von Mary Shelley, die 1818 durch das Buch „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ zu literarischem Ruhm gelangt war. Diesmal gab es allerdings kein Lob, sondern massive Kritik. So bekam Shelley zu hören, ihre Erzählung, in der es um das Aussterben der Menschheit infolge einer globalen Seuche geht, sei „krankhaft“ und „ekelerregend“. 

Hieran hat sich bis heute nichts Grundlegendes geändert: Geschichten, welche den verbreiteten Fortschrittsoptimismus in Frage stellen oder vor verderblichen Tendenzen innerhalb der Gesellschaft warnen, gelten oft als übertriebene Schwarzmalereien, bei denen den Lesern eine irrationale Angst vor der Zukunft eingejagt werde. Doch stimmt das? Enthalten Dystopien nur finstere Übertreibungen – oder hat sich die Welt nicht in vielen Belangen genauso zum Negativen entwickelt, wie vor mehr oder weniger langer Zeit vorhergesagt? 

Demokratie nur zum Schein

Eine Antwort bietet der Blick auf einige der bekanntesten Dystopien des 20. Jahrhunderts. Zu nennen wären hier unter anderem Jewgeni Samjatins „Wir“ von 1920, „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley (1932), „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury (1953) und das wohl populärste dystopische Werk überhaupt, nämlich „1984“ von George Orwell, welches 1949 erschien. In der Regel weist die Gesellschaft der Zukunft in den Romanen mehrere der folgenden Merkmale auf: An der Spitze des Staates, der sich zum Schein demokratisch gibt, steht entweder eine Einzelperson oder eine relativ kleine Gruppe, die in strikter Abschottung vom Rest der Gesellschaft lebt. Dass die Bevölkerung keine echten Mitspracherechte hat, wird tunlichst kaschiert. Den Hauptpart hierbei übernimmt ein gigantischer Propagandaapparat. Dessen wichtigste Aufgabe sind permanente Lobeshymnen auf das System.

Darüber hinaus gibt es strikte, umfassende Sprech- und Denkverbote. In Zusammenhang damit steht die gezielte Umgestaltung der Sprache hin zu einer vom Staat regulierten neuartigen Sprache, in der altbekannte Wörter andere oder gar gegenteilige Bedeutungen erhalten und Euphemismen die Realität verzerren. Ziel sind die Manipulation der Bürger durch die sprachliche Durchsetzung der verordneten Ideologie und die Beseitigung aller vorhandenen Reste an kritischer Individualität.   

Im Kampf gegen eigenständig denkende Menschen, welche die Zustände hinterfragen könnten, wird außerdem massiver Druck ausgeübt, um konformes Verhalten zu erzwingen. Das geschieht zum einen auf der materiellen Ebene: Wer sich nicht systemtreu verhält, bekommt keinen Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen mehr. Zum anderen existiert ein aufgeblähter und technisch hoch gerüsteter Spitzel- und Sicherheitsapparat, welcher scheinbar nur die Einhaltung der Gesetze kontrolliert, tatsächlich aber über dem Gesetz steht und dafür sorgt, dass Menschen- und Bürgerrechte lediglich auf dem Papier Geltung haben – wenn überhaupt. Um Loyalität zu erzwingen und potenziell unpopuläre staatliche Eingriffe zu rechtfertigen, werden des Weiteren immer neue innere oder äußere Bedrohungen konstruiert.

Das Bildungswesen wiederum dient weniger dem Zweck, Wissen zu vermitteln, als „pflegeleichte“ Untertanen zu produzieren. Eine besondere Rolle spielt dabei die Uminterpretation der Vergangenheit: Die historischen Geschehnisse werden anders dargestellt, als sie tatsächlich verlaufen sind. Das soll dem System zusätzliche Legitimität verschaffen – wobei die neue geschichtliche „Wahrheit“ dann bei Androhung drastischer Strafen nicht mehr hinterfragt werden darf.

Gelegentlich bietet der Staat den Beherrschten auch eine ausufernde Vergnügungskultur, um für maximale Ablenkung von allen doch noch sichtbaren Problemen zu sorgen, wobei gleichzeitig das Ziel der Absenkung der Wahrnehmungsfähigkeiten der Masse verfolgt wird.

Warnungen haben kaum gefruchtet

Ansonsten ist die Gesellschaft in den Dystopien vielfach durch ausgesprochen starke soziale Ungleichheiten geprägt: Produzierte Überschüsse kommen meist nur einer Minderheit zugute, sofern sie nicht in den aufgeblähten Sicherheits- und Propagandaapparat investiert werden. Besonders deutlich macht sich das Wohlstandsgefälle dabei auf zwei Gebieten bemerkbar: der Gesundheitsversorgung und der Ernährung. Die kleine Oberschicht profitiert im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung stark vom medizinischen Fortschritt. Und sie besitzt auch Zugang zu hochwertigen Lebensmitteln – wohingegen den unteren Schichten bei der Ernährung Dinge zugemutet werden, die gelegentlich die Grenze zum Widerlichen überschreiten. Gleichzeitig ist die soziale Mobilität erheblich eingeschränkt oder verschwunden. Wer einmal in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht geboren wird, bleibt in aller Regel sein Leben lang Angehöriger dieser Schicht, wobei der soziale Aufstieg ans Unmögliche grenzt.

Die in mancher Hinsicht bestehende Übereinstimmung der Welt der klassischen Dystopien mit dem Hier und Heute ist mehr als augenfällig. Also leben wir momentan zum Teil in einer Realität, welche Autoren wie Huxley, Bradbury oder Orwell zu ihrer Zeit als inhuman charakterisiert haben. Dabei taten sie das nicht aus Effekthascherei oder oberflächlichem Kulturpessimismus. Vielmehr wollten sie vor negativen Entwicklungen warnen, die sich schon vor vielen Jahrzehnten andeuteten. Allerdings hat die Überzeichnung dieser Trends in Dystopien wie „1984“ kaum etwas gefruchtet. Sonst sähen die Zustände des Jahres 2020 nämlich um einiges anders aus.