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07.02.20 / Leitartikel / Unvollständige Erinnerung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 06 vom 07. Februar 2020

Leitartikel
Unvollständige Erinnerung
René Nehring

Nun liegen sie hinter uns, die beiden ersten großen Gedenktage dieses erinnerungsschweren Jahres: am 27. Januar der 75. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz und am 30. Januar der 75. Jahrestag des Untergangs der „Wilhelm Gustloff“. Einmal mehr verdeutlichte der öffentliche Umgang mit den beiden Ereignissen die Schieflage in der Erinnerungskultur unseres Landes. 

Während das Gedenken an Auschwitz mehrere Tage ein dominierendes Thema in Politik und Medien war – unter anderem mit Reden des Bundespräsidenten und der Kanzlerin in Auschwitz, Yad Vashem und im Deutschen Bundestag –, kam die „Gustloff“-Katastrophe in der deutschen Öffentlichkeit so gut wie gar nicht vor: Allein die FAZ und die „Welt“ widmeten sich in längeren Artikeln dem Untergang des Flüchtlingsschiffes; im ZDF wurde er in einer Dokumentation über die letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs zumindest kurz erwähnt. 

Dass die Erinnerung an das NS-Unrecht nicht in Vergessenheit gerät, ist zweifellos richtig und wichtig. Dass eine Regierung sich anmaßte, im Namen des deutschen Volkes entscheiden zu wollen, wer zur „Volksgemeinschaft“ dazugehören durfte – und wer entrechtet, enteignet, vertrieben und ermordet werden sollte, ist auch Jahrzehnte später beschämend. Insofern ist es angemessen, wenn Frank-Walter Steinmeier sagt, das Zeugnis der Opfer des Holocaust „verdrängen, vergessen, verschweigen oder verharmlosen zu wollen, hieße, die Opfer zu verhöhnen. Und es hieße für unser Land, mit diesem Teil seiner Geschichte auch seine eigene Identität zu verleugnen.“ 

Um so erstaunlicher ist jedoch die weitgehende Ignorierung der „Gustloff“-Katastrophe nur drei Tage später. Immerhin ist der Untergang des Flüchtlingsschiffs das größte Unglück in der Geschichte der Seefahrt. Über 9000 Menschen (!) verloren in einer einzigen Nacht ihr Leben. Warum ist ein solches Ereignis im politischen Berlin kein Thema? 

Frühere Repräsentanten der Bundesrepublik wussten durchaus, sowohl an die in deutschem Namen begangenen Verbrechen als auch an deutsche Opfer zu erinnern. So sagte Richard von Weizsäcker 1985 in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes: „Wir gedenken insbesondere der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Wir gedenken aller Völker, die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben. Als Deutsche gedenken wir in Trauer der eigenen Landsleute, die als Soldaten, bei den Fliegerangriffen in der Heimat, in Gefangenschaft und bei der Vertreibung ums Leben gekommen sind.“ 

Und 2005 schrieb der jüdische Schriftsteller Ralph Giordano in einem Bildband über das Kriegsende in Deutschland: „Ich habe mich fast ein ganzes Leben lang beschäftigt mit dem Leid, das Deutsche über andere gebracht haben – dennoch will ich das Recht haben, auch über deutsches Leid erschüttert zu sein. (…) Ich (…) will meine Erschütterung bekennen angesichts der lebenden Phosphorfackeln im Hamburg der ,Operation Gomorrha‘ vom Juli 1943; der Tausenden von Frauen und Kindern im Stahlleib der ,Wilhelm Gustloff‘ und anderer torpedierter Schiffe, die in den eisigen Fluten der Ostsee versanken, oder angesichts der grausigen Einzel- und Massenvergewaltigungen. Wenn ich auf Fotos (…) Kinder entdecke, die, wie alle Kinder, schuldlos sind, doch nun voller Verstörung in die unbegreifbare Welt der Erwachsenen schauen – dann will ich darüber klagen, heute noch, so spät, so unendlich spät danach. Ohne dass ich dabei auch nur eine einzige Träne weniger vergösse über die ermordeten Juden, Sinti, Roma, Slawen – und die anderen Millionen und Abermillionen, die dem Anschlag Hitlerdeutschlands auf Europa, auf die Welt, auf die Menschheit zum Opfer gefallen sind.“ 

Warum sind derlei Sätze im Jahre 2020 nicht zu vernehmen? Warum erinnern die führenden Repräsentanten unseres Landes an einem Tag so umfassend an deutsche Verbrechen – und schweigen drei Tage später über den tausendfachen Tod der eigenen Landsleute? Weil sie von letzterem nichts mehr wissen? Oder weil sie davon nichts mehr wissen wollen? Eine Erinnerungskultur, die fortwährend die Schandtaten der eigenen Nation benennt und zugleich keine Empathie für die eigenen Opfer aufbringt, muss sich fragen lassen, wie glaubwürdig sie ist.