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14.02.20 / Kriegsfolgen / Flucht durch Eis und Schnee / Eine Familie aus Braunsberg überlebt die Kriegstragödie – über das Frische Haff gelangten Mutter und Kinder in den Westen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 07 vom 14. Februar 2020

Kriegsfolgen
Flucht durch Eis und Schnee
Eine Familie aus Braunsberg überlebt die Kriegstragödie – über das Frische Haff gelangten Mutter und Kinder in den Westen
Siegfried F. Wiechert

An einem frostigen Tag Mitte Februar 1945, bei minus 25 Grad Celsius, türmten sich vor unserer Haustür Schneeverwehungen. Dann kamen die Männer der SA in ihren Uniformen, und an den breiten Ledergürteln hingen Pistolen. Sie hatten Befehl, uns vor den Gräueltaten der sowjetischen Armee zu warnen. Mit energischer Stimme forderten sie uns auf, am nächsten Tag unser Haus zu verlassen, sie drohten sogar mit Erschießungen.

Mutter hörte von Nachbarn, die Front sei nur drei Kilometer südlich von Braunsberg entfernt. In der nächsten Nacht flogen die Geschosse der Roten Armee über unser Haus hinweg, sichtbar wie glühende Pakete am Nachthimmel. Zwei Artilleriegeschosse trafen die westliche Giebelwand unseres Hauses, zahlreiche Granatsplitter steckten im Putz der Außenwand, eine Bombe explodierte vor unserem Haus, und zwei Nachbarhäuser wurden zerstört. Ein Gefühl der Angst und Bedrohung überkam uns. Wir zogen doppelt Kleider und Strümpfe an, meine Mutter ihre Stiefel, und machten uns auf den Weg. Mein jüngerer Bruder im Kinderwagen, geschoben von Mutter, und ich (im 9. Lebensjahr); meine Tante und meine Cousine ergänzten unsere kleine Fluchtgruppe. Ich zog unseren Schlitten, den Mutter mit Eingemachtem und Decken, Kopfkissen und Jacken bepackt hatte. 

Zunächst führte der Fluchtweg an der zerbombten und von Leichen verseuchten Innenstadt Braunsbergs vorbei. Der Treck, dem wir uns anschlossen, bewegte sich hinter dem Deich neben dem Fluss Passarge. Es war eine Tagestour über matschigen Schnee. Viele ältere Menschen kamen nicht weiter, lagen im nassen Schnee am Wegesrand, und mancher hauchte hier seinen letzten Atem aus. Ich sah in ihre Augen und auf die bleichen Gesichter der im nassen Schnee Liegenden. Waren sie schon dem unbarmherzigen Tod erlegen? 

Meine Mutter kannte eine Bauernfamilie in Altpassarge, bei der wir auf der Tenne in ihrem vollbelegten Bauernhaus eine Übernachtungsmöglichkeit fanden. Wir lagen mit verwundeten Soldaten und Flüchtlingen eng zusammen. Im Raum stieg der Geruch von Enge und verbrauchter Luft in die Nase. Noch zur späten Stunde suchten immer wieder von der Flucht erschöpfte Menschen Einlass und ein Dach über dem Kopf. 

Schon früh am nächsten Tag, orangegelb spiegelte sich die aufgehende Sonne auf der Eisfläche des Frischen Haffes, und unter dem wolkenlosen Himmel stand die Kälte still, schlossen wir uns dem Treck unserer Landsleute an. Der aus Leiterwagen und Pferdegespannen zusammengestellte Treck schlängelte sich auf dem mit Birkenästen abgesteckten Weg über das zugefrorene Frische Haff. Ein stiller, nicht enden wollender Zug, nur die Pferde, die die Wagen zogen, hörte man ab und an wiehern und ihr Atem stieg wie weißer Nebel in die kalte Luft. Der klirrende Frost und der scharfe Wind, der über das Eis fegte, biss ins Gesicht, ließ meine Hände gefühllos werden, drang durch die Jacke und zog von unten durch die Schuhsohlen. Noch heute sieht man die Hautverfärbungen vom Frost an einigen Stellen meiner Zehen. 

Auf dem Eis kam unserer Gruppe ein herrenloser großer Hund zugelaufen, sein Rücken reichte mir bis zur Hüfte. An einer Pfote war er verbunden und humpelte. Er lief zu meinem Schlitten und beschnüffelte das Gepäck, unsere letzte Habe. 

Mutter bekam am zweiten Tag unserer Flucht Krämpfe in den Armen vom Schieben des Kinderwagens. Sie hob meinen kleinen Bruder aus dem Wagen, und er ist auch ab und zu eine kurze Strecke gelaufen, damit Mutter sich etwas erholen konnte. Sie bemühte sich jedoch, so schnell wie möglich die Frische Nehrung zu erreichen, um festen Boden zu betreten. Wegen seiner noch geringen Lebensjahre lief mein Bruder auf dem Eis nur kleinschrittig, sodass wir nicht recht vorankamen. Mutter hob ihn wieder in den Kinderwagen, denn die bewaldete Frische Nehrung lag im blauen Dunst am Horizont noch kilometerweit entfernt. 

Wir hatten Angst vor Tieffliegern, die freie Eisfläche und der wolkenlose Himmel ließen bei Beschuss keine Deckung zu. Wir hörten entfernt vom Festland das Brummen der Flugzeugmotoren und die Explosionen von abgeworfenen Bomben sowie  den Granatendonner, abgefeuert aus den Rohren der russischen Panzer. Aufklärungsflüge über das Frische Haff ließen die feindlichen Flieger an diesem Tag aus. Kurz bevor wir nach einem Tagesmarsch das Ufer der Frischen Nehrung erreichten, zeigten sich im Eis lange Risse und ich hatte Angst, so eine schwimmende Eisscholle zu übersteigen, denn man konnte abrutschen ins eisige Wasser. Aber der Hund, mein treuer Begleiter, machte es mir vor. Er sprang über die schwankenden Eisschollen und nahm mir die Angst, sie zu überschreiten. So gelangte unsere kleine Fluchtgruppe unverletzt, aber gezeichnet von den Strapazen der zweitägigen kilometerlangen Flucht durch Eis und Schnee, zu Fuß auf die Frische Nehrung.

Auf Lkw der Wehrmacht wurden wir von Soldaten auf die Ladefläche gehoben und mit abgedunkelten Scheinwerfern noch in den Abendstunden über einen unebenen Sandweg (früher die ehemalige Poststraße) nach Pillau-Neutief befördert, nachdem wir fast unser ganzes Gepäck und die von Mutter gepackten Nahrungsmittel, auch unseren Schlitten, zurücklassen mussten. So schafften die Soldaten mehr Platz auf der Ladefläche für Flüchtlinge. Frauen mit kleinen Kindern bekamen bei der Auswahl zur Mitnahme den Vorzug. Meiner Mutter ließen sie ihren Kinderwagen, in dem mein kleiner Bruder dick angezogen und eingewickelt in Decken lag. 

Keiner kannte das Ziel. Nur Vermutungen kursierten. Im Februar 1945 wurde Pillau am Seekanal nach Königsberg zur Sammelstelle für Flüchlinge. Unsere Gruppe bestieg ein Küstenmotorschiff ab Pillau nach Gotenhafen-Neufahrwasser und weiter ging es mit der „Deutschland“ über die Ostsee vor die Insel Rügen auf Reede vor Sassnitz, nach der Ausbootung von dort aus im Güterzug bis in die Nähe der niederländischen Grenze. Hier blühten schon die Osterglocken. Unser Fluchtweg dauerte etwa sechs Wochen.  

Nachtrag zu „Unsagbares Leid auf allen Seiten“ (PAZ-Nr. 6, Seite 18) Bernhard Mrosz ist Kapitänleutnant a.D.  Er war als Dolmetscheroffizier für die russische und polnische Sprache tätig. Den genannten Artikel von Wadim Gasisow übersetzte er aus dem Russischen für die PAZ.