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21.02.20 / „Bürgerlich“ / Wie ein alter Begriff von der Propaganda zerfressen wird / Was einst die gemäßigte politische Rechte beschrieb, soll zum Kampfbegriff der extremen Linken „gegen Rechts“ umfunktioniert werden

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 08 vom 21. Februar 2020

„Bürgerlich“
Wie ein alter Begriff von der Propaganda zerfressen wird
Was einst die gemäßigte politische Rechte beschrieb, soll zum Kampfbegriff der extremen Linken „gegen Rechts“ umfunktioniert werden
Erik Lommatzsch

Politiker der derzeitigen Regierungslinie und große Medien reagieren allergisch, sobald der AfD das Attribut „bürgerlich“ zugeschrieben wird. Bezeichnend war ein Vorgang am Abend des 1. September vergangenen Jahres. An diesem Tag war neben dem brandenburgischen auch der sächsische Landtag gewählt worden. Wie üblich, berichteten verschiedene Sender am Abend über die sich mit den Stimmenauszählungen immer sicherer abzeichnenden Ergebnisse. 

Wie seit noch nicht allzu langer Zeit ebenfalls üblich verzichteten nahezu alle Moderatoren darauf, beim Aufzeigen potenziell regierungsfähiger Bündnisse die AfD einzubeziehen. Früher gehörte die Darstellung von rechnerisch möglichen Mehrheiten, gegebenenfalls mit dem Zusatz „wenig wahrscheinlich“, zwecks Information des Zuschauers zur seriösen Berichterstattung. Eine Ausnahme mit Alleinstellungsmerkmal und nicht nur für die „Welt“ ein „Aufreger des Wahlabends“ war die zaghafte Äußerung der MDR-Journalistin Wiebke Binder mit Blick auf das sächsische CDU-Ergebnis: „Eine stabile Zweierkoalition, eine bürgerliche, wäre ja theoretisch mit der AfD möglich.“ Binder wurde umgehend aus berufenem Unions-Mund beschieden, dies „wäre keine bürgerliche Koalition“. 

WDR-Moderatorin unter Feuer

MDR-Chefredakteur Torsten Peuker entschuldigte sich am Folgetag. Ein „Versprecher“ sei es gewesen, unter dem „enormen Stress einer Live-Sendung“. Die „Zeit“ sprach davon, die AfD versuche den Begriff des „Bürgerlichen“ zu „kapern“. Nils Minkmar, „Spiegel“-Journalist, betrachtete es als „Bürgerbeleidigung“, wenn sich „AfD-Leute“ als Vertreter des Bürgertums „inszenieren.“ 

Schließlich nahm der Bundespräsident grundsätzlich Stellung zur Frage, wer Anspruch auf die Bezeichnung „bürgerlich“ habe – wie gewohnt in markigen Worten. Laut „Spiegel“ äußerte Frank-Walter Steinmeier, Bürgertum, Rechtsstaat und individuelle Freiheitsrechte gehörten zusammen. Wer sich in dieser Tradition sehe, „kann nicht gleichzeitig einem ausgrenzenden, autoritären oder gar völkischen Denken huldigen. Das ist das Gegenteil von bürgerlich: Es ist antibürgerlich.“ Er sagte weiter, jede Partei müsse entscheiden, wo sie stehe, „entweder völkisch kollektivistisch oder aufgeklärt bürgerlich. Beides gleichzeitig geht nicht.“ Zwar brauche Demokratie auch Streit, aber „Frust ist kein Freifahrtschein für Menschenfeindlichkeit“. 

Garniert mit der Allzweckphrase „Menschenfeindlichkeit“, mit der man jede Kritik pauschal zurückweisen kann, handelte es sich um mehr als problematische Unterstellungen. Vor allem aber scheint Steinmeier der Begriff des Staatsbürgers fremd zu sein. Jenes Staatsbürgers, der innerhalb einer Demokratie seine Rechte, vielleicht sogar seine Verpflichtung, zu politischer Teilhabe im Rahmen der Verfassung wahrnimmt.

Steinmeier vorneweg

Bereits Aristoteles sagte, der Bürger werde „durch nichts anderes in einem höheren Grad bestimmt als durch seine Teilhabe an richterlicher Entscheidung und an der Herrschaft“. Wesentliches Element einer stabilen Bürgerschaft war stets die klare Abgrenzung nach außen. Unabdingbar ist die Akzeptanz einer Rechtsordnung, die Pflichten und Mitwirkungsmöglichkeiten regelt. Und vor allem: Der Bürger ist frei. Der Bürgerbegriff ist historisch durchaus facettenreich. So wurde etwa in der Zeit nach der Französischen Revolution unterschieden zwischen dem Staatsbürger („Citoyen“), der zum Wohle des Ganzen am Gemeinwesen teilnehme, und dem Wirtschaftsbürger („Bourgeois“), der insbesondere ökonomische Interessen verfolge. Einerseits entstand so das später sehr wirksame Feindbild des sich im Zweifel auf Kosten der Allgemeinheit bereichernden, nur auf seinen Vorteil bedachten Geschäftsmannes. 

Andererseits ist ohne besagtes Wirtschaftsbürgertum die ökonomisch-technische Entwicklung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nur schwer vorstellbar. Entstanden war hier auch eine spezifische Mentalität, sogenannte bürgerliche Werte wurden kultiviert. Dazu ist auch ein hohes Bildungsideal zu rechnen. Dies ging einher mit der Ausprägung eines Elitebewusstseins, woraus sich ein bis heute geläufiger Begriff des Bürgers erklärt, der mit dem des Staatsbürgers nur bedingt deckungsgleich ist. Die Vorstellung vom Staatsbürger blieb über die Jahrhunderte erhalten. Im politischen Sprachgebrauch wurde und wird „bürgerlich“ in Deutschland vielfach als Synonym für liberale und konservative Strömungen gebraucht. Meist handelt es sich um den hilflosen Versuch, nicht einfach von „rechten“ Parteien zu sprechen. Linke Parteien korrekt als „links“ zu bezeichnen, ist bekanntermaßen nicht anstoßerregend, und sofern es keinen tatsächlichen Anlass gibt, auch nicht vom Geruch des Extremismus umgeben. Im Sinne des Staatsbürgerbegriffs sind sämtliche Koalitionen zwischen Parteien der Bundesrepublik auch „bürgerliche“ Koalitionen. 

Der Begriff der „Bürgerlichkeit“ erleidet im heutigen Deutschland ein ähnliches Schicksal wie der Begriff der „Demokratie“. Unter Übergehung seiner Inhalte ist er reserviert für die „Guten“, die sich auf dem quasi regierungsamtlich festgelegten und medial gestützten Kurs befinden. So verkündet der MDR, Bodo Ramelow sei auch für eine „bürgerliche Klientel“ wählbar. Ausgrenzend und autoritär – war es nicht genau das, was der Bundespräsident der AfD unterstellt? – wird dem politischen Gegner die Bürgerlichkeit abgesprochen. 

Vermutlich verbirgt sich dahinter nichts als Angst. Es könnte nicht nur AfD-Sympathisanten einfallen, dass es einen erheblichen Unterschied zwischen Untertan und Bürger gibt. Nahezu bedrohlich wirkt dann ein Zitat der 2016 verstorbenen Politikerin und Verfassungsgerichtspräsidentin Jutta Limbach, die übrigens auch eine SPD-Parteifreundin Steinmeiers war: „Eine demokratische politische Kultur lebt bekanntlich von der Meinungsfreude und der Anteilnahme der Bürger. Das setzt Furchtlosigkeit voraus.“