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06.03.20 / Geschichte / Erinnerung an einen Kompromiss / Der Berliner Historiker Stephan Lehnstaedt räumt mit dem „schönen Schlagwort“ vom „Wunder an der Weichsel“ auf

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10 vom 06. März 2020

Geschichte
Erinnerung an einen Kompromiss
Der Berliner Historiker Stephan Lehnstaedt räumt mit dem „schönen Schlagwort“ vom „Wunder an der Weichsel“ auf
Dirk Klose

Vor 100 Jahren geschah das vielzitierte „Wunder an der Weichsel“. Die noch junge Sowjetunion und das neuentstandene Polen waren in einem heftigen Krieg aneinandergeraten. Polnische Einheiten waren im Sommer 1919 bis Kiew und Minsk vorgestoßen; ein nicht zu bremsender Gegenstoß führte die Rote Armee im August 1920 bis vor Warschau. Unter Führung von Jozef Pilsudski, Polens starkem Mann, raffte das Land seine letzten Kräfte zusammen und warf die „tartaro-byzantinistischen Horden“ in einem militärischen Bravourstück zurück. Im März 1921 schlossen beide Seiten, völlig ausgelaugt, in Riga Frieden. 

Das „Wunder“, so der in Berlin lehrende Historiker Stephan Lehnstaedt, sei nichts weiter als ein „schönes Schlagwort“. Es sei Wunschdenken, die Sowjets wären bei einem Sieg bis nach Deutschland vorgestoßen und hätten ganz Europa bolschewisiert. Gleichwohl waren es dramatische Ereignisse, die damals ganz Europa bewegten. Liest man Lehnstaedts exzellente und bis in die Gegenwart reichende Analyse der militärischen und politischen Ereignisse, spürt man diese Dramatik noch heute.  

Das 1918 neuentstandene Polen hegte illusionäre Pläne nach Wiederherstellung der alten „Rzeczpospolita“ von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer als Konföderation aus Polen, Litauern, Weißrussen und Ukrainern. Dem stellten sich die Sowjets entgegen. Der Kompromissfriede von Riga befriedigte keine Seite; der alte Hass schwelte weiter und wirkt nach all dem Leid im Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart.

Viel Raum widmet der Autor dem Elend der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten, den Gefangenen, der Pogromen ausgesetzten jüdischen Bevölkerung, der schlechten Ausrüstung der Soldaten, dem letzten großen Einsatz von Kavallerie und der Nachwirkung in beiden Ländern. In Moskau war Stalin als Schuldiger ausgemacht worden; in den 1930er Jahren rächte er sich an seinen Gegnern, von denen viele ermordet wurden. Pilsudski wiederum, heute in Polen eine feste Größe, wurde auch vom NS-Regime hochgehalten. Hitler selbst nahm 1935 in Berlin an einem Requiem für Pilsudski teil; zu dessen Schriften im Deutschen steuerte Göring ein Vorwort bei. 

Lehnstaedt warnt vor einem „fast paranoiden Wahn“ im heutigen Polen. Mit Blick auf 1920 bejubele man sich selbst, – „eine wirkmächtige Deutung, in deren Tradition sich Jaroslaw Kaczynskis Regierung als Retter vor der Europäischen Union, vor deutscher Dominanz und russischer Aggression inszeniert.“ 

Stephan Lehnstaedt: „Der vergessene Sieg. Der Polnisch-Sowjetische Krieg 1919/20 und die Entstehung des modernen Osteuropa“, C.H. Beck Verlag, München 2019, 224 Seiten, 14,95 Euro