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27.03.20 / Wikipedia / Im schönen Schein der Objektivität / Man präsentiert sich als Online-„Enzyklopädie“ und erweckt den Eindruck von nüchterner Unparteilichkeit. Doch bei genauer Prüfung fällt dieser hehre Anspruch in sich zusammen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 13 vom 27. März 2020

Wikipedia
Im schönen Schein der Objektivität
Man präsentiert sich als Online-„Enzyklopädie“ und erweckt den Eindruck von nüchterner Unparteilichkeit. Doch bei genauer Prüfung fällt dieser hehre Anspruch in sich zusammen
Wolfgang Kaufmann

Das Online-Lexikon Wikipedia ist die am fünfthäufigsten besuchte Internetseite weltweit – gleich nach den Suchmaschinen Google und Baidu, dem Videoportal YouTube und dem Netzwerk Facebook. Eine Recherche auf Wikipedia ersetzt heute oft den Blick in andere Nachschlagewerke. Und das soll angeblich kein Problem darstellen. Schließlich – so die Macher von Wikipedia – habe man ja diverse interne Standards, welche sowohl die Qualität als auch die Objektivität der mittlerweile rund 50 Millionen Einträge garantieren sollen. 

Beispielsweise sorge ein Heer von Administratoren für die Einhaltung der Regeln, welche unter anderem besagten, dass jede Information aus verlässlichen Quellen stammen müsse. Zudem führe die Vielzahl der Mitwirkenden an den einzelnen Artikeln, die jederzeit erweitert und korrigiert werden könnten, zu weitestgehender Ausgewogenheit. 

Doch genau das ist offenbar nicht der Fall – und zwar auch jenseits der unzähligen bewussten Manipulationen, wie jene durch den britischen „Klimaaktivisten“ William Connolley, der allein schon 5428 Beiträge verfälschte. Das zeigte erstmals eine Studie von Richard Rogers und Ena Sendijarevi? aus dem Jahre 2013: Dieser zufolge differieren Inhalt und Tenor der Wikipedia-Einträge über das Massaker von Srebrenica während des Bosnienkrieges 1995 erheblich – je nachdem, ob es sich um die englische, serbische, bosnische oder kroatische Version handelt.

Verantwortlich für derartige Abweichungen ist der Ingroup Bias, zu Deutsch Eigengruppenfehler. Der gehört zu den kognitiven Verzerrungen, welche zu falschen Schlussfolgerungen führen, was andere Personen oder Gruppen betrifft. 1971 unternahm der britische Sozialpsychologe Henri Tajfel ein bahnbrechendes Experiment hierzu: Menschen, die aufgrund minimaler Ähnlichkeiten in einer Gruppe zusammengefasst wurden, entwickelten regelmäßig negative Einstellungen gegenüber Außenstehenden oder anderen Gruppen, während sie die eigene Gruppe übertrieben positiv wahrnahmen.

Und bei Wikipedia ist es offensichtlich genauso: Der Eigengruppenfehler bewirkt ungewollte, aber schwerwiegende und flächendeckende Verzerrungen der Aussagen von Einträgen. Das konnte eine Arbeitsgruppe von Psychologen unter der Leitung von Professor Aileen Oeberst vom Lehrgebiet Medienpsychologie der Fernuniversität im nordrhein-westfälischen Hagen in einer großangelegten Studie nachweisen. Deren Ergebnisse wurden jetzt im Fachblatt „British Journal of Social Psychology“ unter der Überschrift „Ingroup Bias in Wikipedia articles about intergroup conflicts“ (Eigengruppenfehler in Wikipedia-Artikeln über Konflikte zwischen Gruppen) publiziert.

Im Rahmen seiner Untersuchung analysierte das Psychologen-Team um Oeberst Einträge in dem Online-Lexikon, welche vergangene Kriege oder Kampfhandlungen zum Inhalt hatten, bei denen es im Wesentlichen nur zwei große Konfliktparteien gab. Hierzu zählen beispielsweise der Englisch-Spanische Krieg von 1585 bis 1604, der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71, die türkische Invasion auf Zypern 1974, der Falkland-Krieg zwischen Großbritannien und Argentinien 1982 sowie der Russisch-Georgische Krieg von 2008. Dabei lautete die Ausgangshypothese der Hagener Wissenschaftler, dass sich der Eigengruppenfehler – und damit eben die mangelnde Objektivität der Wikipedia-Autoren – am deutlichsten manifestiere, wenn man die verschiedensprachigen Versionen der Artikel vergleiche. Also beispielsweise im Falle des 

Falkland-Krieges die englische und spanische Fassung. Wer englisch schreibe, werde wohl eher auf der Seite Großbritanniens stehen und wer spanisch schreibe, eher auf der Seite Argentiniens. Und das müsste sich dann auch am Inhalt zeigen. 

Jeder hat einen anderen Blickwinkel

Bei der Analyse der Wikipedia-Beiträge über 35 militärische Konflikte, an deren Erstellung insgesamt 38 000 „Wikipedianer“ aus zahlreichen Ländern mitgewirkt hatten, gelangte das Team zu folgendem Ergebnis: In den meisten Artikeln gebe es erhebliche Verzerrungen – je nachdem, in welcher Sprache sie abgefasst seien. Die Konfliktpartei, welche dieselbe Sprache verwendet habe wie die Verfasser der Texte, werde als die stärkere Seite dargestellt und als Protagonist mit der moralisch besser fundierten Position. Dahingegen erscheine die anderssprachige Gegenseite regelmäßig als Hauptverantwortlicher für den Krieg. Dieser Trend ziehe sich durch die meisten untersuchten Wikipedia-Artikel über Konflikte der Vergangenheit, wobei die Schlagseite in manchen Fällen besonders auffällig sei. So unter anderem beim Deutsch-Französischen und Russisch-Georgischen Krieg sowie auch dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg von 1846 bis 1848.

Der Befund resultiert ganz offensichtlich aus der übergroßen Zahl von sogenannten Ingroup-Autoren, also solchen, welche in der Sprache schreiben, die auch die Sprache der jeweiligen Konfliktpartei war. Die Quote liegt hier bei durchschnittlich 72 Prozent. Darüber hinaus wurde bei der Abfassung der Texte auch nicht auf die Gesamtheit der zur Verfügung stehenden Quellen zurückgegriffen. Vielmehr dominieren Quellen in der Sprache der Beiträge. Und die vermitteln oft eine einseitige Sicht auf die Ereignisse. Ausgewogenheit fanden die Hagener noch am ehesten, wenn der Konflikt sehr weit zurücklag oder es ausnahmsweise einmal sehr wenige Ingroup-Autoren gab.

Aus all dem zieht das Team den Schluss, dass Wikipedia mehr „Diversität“, also Vielfältigkeit benötige. Diese wird jedoch nicht zu erreichen sein, weil die Interessen der „Wikipedianer“ nun einmal ungleich verteilt sind und eine Zwangsquote von Nicht-Ingroup-Autoren beziehungsweise Drittsprachlern kaum durchsetzbar sein dürfte. Daher kann das Fazit nur lauten: Vorsicht bei der Benutzung von Wikipedia! Neben den Beiträgen, welche die Nutzer ganz bewusst manipulieren wollen, birgt das vielfach verwendete Online-Lexikon offensichtlich noch weitere Gefahren.