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27.03.20 / Tschernobyl / Roman der Stimmen / Swetlana Alexijewitsch lässt Menschen zu Wort kommen, die durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl alles verloren hatten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 13 vom 27. März 2020

Tschernobyl
Roman der Stimmen
Swetlana Alexijewitsch lässt Menschen zu Wort kommen, die durch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl alles verloren hatten
Lydia Wenzel

Zwischen Vergangenheit und Gegenwart  „Vermutlich wären wir mit einer atomaren Kriegssituation wie in Hiroshima fertig geworden, darauf waren wir vorbereitet. Aber die Katastrophe geschah in einem nichtmilitärischen Atomobjekt… Das kriegerische Atom, das waren Hiroshima und Nagasaki, das friedliche Atom dagegen war die Glühbirne in jedem Haushalt,“ so ein Zeitzeuge der Tschernobyl-Katastrophe. Zwangsevakuierungen, zerstörte Häuser, Aufopferung für das eigene Land, Heldentum, das Zurücklassen des gesamten bisherigen Lebens: Was nach den Erfahrungen eines Krieges klingt, wurde 1986, 41 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, schreckliche Wirklichkeit für die Menschen der Region in und um Tschernobyl. Nachdem am 26. April ein Atomreaktor in Tschernobyl explodierte und eine Kernschmelze stattgefunden hatte, erreichte die „radioaktive Wolke“ bereits am 6. Mai die andere Seite der Erde und machte die Reaktorkatastrophe somit zu einem globalen Problem. 

Mit einem neuen Genre, dem „Roman der Stimmen“, macht die Trägerin des Literaturnobelpreises und des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Swetlana Alexijewitsch, in „Tschernobyl“ das Leid derjenigen fassbar, die am unmittelbarsten betroffen waren. Über 20 Jahre hinweg hat sie hierfür mit Dorfbewohnern, Feuerwehrmännern, Witwen sowie Müttern gesprochen und deren Erlebnisse und Gedanken in Form von Monologen festgehalten. Auf diese Weise entstand ein ebenso sensibles wie erschütterndes Zeugnis der Katastrophe. Dabei macht schon der Untertitel „Eine Chronik der Zukunft“ deutlich, dass es vor allem das „Danach“ ist, das die betroffenen Menschen beschäftigt: Weil sie von jetzt auf gleich ihre Dörfer verlassen und all ihre nun verstrahlte Habe zurücklassen mussten. Weil Tod und Krankheit für sie und ihre Lieben unsichtbar in selbst angebautem Gemüse, im Fluss und in den eigenen vier Wänden lauert. Weil der Begriff „Tschernobyl“ die Verlobte davonlaufen lässt und die Überlebenden im Exil zu Aussätzigen werden lässt. Berührend und unglaublich nahbar erfährt der Leser so von Einzelschicksalen, die das ganze Ausmaß der Katastrophe deutlich machen, das bis heute nachwirkt. „Verseucht ist nicht nur unsere Erde, sondern auch unser Bewusstsein. Und das für viele Jahre … Tschernobyl ist überall, es ist um uns herum, aber wir haben keine Wahl – wir müssen lernen, damit zu leben.“

Swetlana Alexijewitsch: „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Berlin 2019, 372 Seiten, 18 Euro