28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
10.04.20 / Richard von Weizsäcker / Bundespräsident ohne Gegenkandidat / Bis heute genießt der vor 100 Jahren geborene württembergische Freiherr unkritische Verehrung. Erklären lässt sich das nur schwer

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15 vom 10. April 2020

Richard von Weizsäcker
Bundespräsident ohne Gegenkandidat
Bis heute genießt der vor 100 Jahren geborene württembergische Freiherr unkritische Verehrung. Erklären lässt sich das nur schwer
Erik Lommatzsch

Vielen gilt „König Silberlocke“ nach wie vor als die ideale Verkörperung eines deutschen Bundespräsidenten. Richard Freiherr von Weizsäcker amtierte über zwei Amtsperioden, von 1984 bis 1994, als sechstes Staatsoberhaupt der Bundesrepublik. Nicht nur der Name wies ihn als Aristokraten aus. In seinem gesamten Auftreten wusste er das Vornehme zu kultivieren. Von den meisten Politikern seiner Umgebung hob er sich – durchaus bewusst – ab. Der Gegensatz zwischen dem zierlichen, rhetorisch begabten Intellektuellen und Helmut Kohl, Bundeskanzler von 1982 bis 1998, hätte größer nicht sein können.

Das Erscheinungsbild mag das Ansehen, das Weizsäcker als Bundespräsident sowie in den Jahren danach genoss, zum Teil erklären. Zufriedenstellend lässt sich die Frage, woher die „unangefochtene, fast kultische Verehrung“ kommt, welche etwa der Publizist Thorsten Hinz scharf kritisierte, wohl nicht beantworten. Der „Deutschlandfunk“ resümierte nach Weizsäckers Tod: „Kaum ein Staatsoberhaupt schien für seine Aufgabe so geschaffen zu sein.“ 

Hilfsverteidiger seines Vaters 

Geboren wurde er am 15. April 1920 im Neuen Schloss in Stuttgart. Sein Vater, der Marineoffizier Ernst von Weizsäcker, war im Vorjahr in den diplomatischen Dienst gewechselt. Der Großvater hatte als württembergischer Ministerpräsident gewirkt und war vom vierten und letzten König von Württemberg, Wilhelm II., 1916 in den erblichen Freiherrnstand erhoben worden. Die Tätigkeit des Vaters brachte es mit sich, dass Weizsäcker einen großen Teil von Kindheit und Jugend im Ausland verbrachte, so in Basel, Kopenhagen und Bern. Nach dem Abitur in Berlin widmete er sich in Oxford und Grenoble historischen und philosophischen Studien. 1938 erfolgte der Eintritt in das legendäre Infanterieregiment Nr. 9, auch bekannt als „Graf Neun“. Im Zweiten Weltkrieg nahm er am Feldzug gegen die Sowjetunion teil, zuletzt hatte er den Rang eines Hauptmanns inne. 

Der Gefangenschaft entgangen, konnte er bereits 1945 das Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen beginnen, zehn Jahre später erfolgte die Promotion. Noch als Student hatte er sich als Assistent der Verteidigung seines Vaters engagiert. Ernst von Weizsäcker stand in Nürnberg ab 1947 im sogenannten Wilhelmstraßenprozess vor Gericht. Im Dritten Reich war er 1938 zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt ernannt worden, ab 1943 war er Botschafter beim Vatikan. 1949 wurde er wegen Mitwirkung an der Judendeportation nach Auschwitz zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt, die später herabgesetzt wurde. Mittels einer Amnestie kam er schon im Oktober 1950 frei. 

Richard von Weizsäcker hatte eine andere Sicht auf die Dinge als die Richter. Auf der Grundlage der Annahme, sein Vater sei strikter Gegner der NS-Politik gewesen, fragt er in seinen „Erinnerungen“: „Welchen Preis musste einer bezahlen, der im Amt blieb, also mitwirkte, um auf die Entwicklung in seinem Sinne verändernd einzuwirken oder um wenigstens Schlimmeres zu verhüten?“ Zudem: „Wenn er aber wegen seiner Tätigkeit einen Gerichtsprozeß zu erwarten hatte, dann wäre Freislers Volksgerichtshof die richtige Instanz gewesen, nicht aber das Militärgericht der Alliierten in Nürnberg.“ Die Berliner Villa, die die Weizsäckers 1939 bezogen, hatte übrigens bis 1938 dem jüdischen Bankier Hans Fürstenberg gehört, der ins Ausland fliehen und sein Anwesen „an das Reich“ verkaufen musste.

Richard von Weizsäcker hatte leitende Positionen im Bankwesen und in der Industrie inne. So war er bis 1966 Mitglied der Geschäftsleitung von Boehringer Ingelheim. Das Unternehmen belieferte im Folgejahr eine in den USA ansässige Firma mit Chemikalien, die dort zur Herstellung von „Agent Orange“ weiterverarbeitet wurden.

Von 1964 bis 1970, dann noch einmal von 1979 bis 1981 wirkte er als Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Der CDU gehörte er schon ab 1954 an. 1969 zog Weizsäcker in den Bundestag ein, in der Unionsfraktion war er ab 1973 stellvertretender Vorsitzender. Für seine Partei arbeitete er in der Grundsatzkommission. Von 1981 bis 1984 war er Regierender Bürgermeister von Berlin. 

Folgt man Kohl, der Weizsäckers Vorankommen zunächst stark gefördert hatte, später jedoch auf Distanz ging, so hatte es dieser bereits frühzeitig auf das höchste Staatsamt abgesehen. Einen ersten Anlauf unternahm er 1968, unterlag aber schon CDU-intern gegen Verteidigungsminister Gerhard Schröder. 1974 war er Zählkandidat gegen Walter Scheel. 1979 bevorzugte nicht nur Kohl Karl Carstens, sodass sich Weizsäcker noch bis zur Bundespräsidentenwahl 1984 gedulden musste, in der er gegen die von den Grünen vorgeschlagene Schriftstellerin Luise Rinser gewann. 

„Erzwungene Wanderschaft“

Als Bundespräsident gewann er schnell an Zustimmung. Bei seiner Wiederwahl 1989 gab es keinen Gegenkandidaten. In der Geschichte der Bundesversammlungen ist das bislang einzigartig. Eitel war er, das Lob anderer zitierte er gern. In Weizsäckers „Erinnerungen“ ist über seine Moskau-Reise von 1987 nachzulesen, nach Ansicht Michail Gorbatschows sei damit „eine neue Seite in der Geschichte aufgeschlagen worden“, Kohl habe von einem „Meilenstein der Verständigung“ gesprochen.

Konkret verbunden wird Weizsäckers Präsidentschaft mit der Rede zum 40. Jahrestag des Weltkriegsendes im Jahr 1985. Großen, wenn auch nicht einhelligen Beifall finden bis heute die Formulierungen: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Weniger im Gedächtnis sind gelungene Sätze wie „Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich.“ Und seltsam vergessen scheinen die kenntnis- und pietätfreien Worte: „Der erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen nach Westen folgten Millionen Polen und ihnen wiederum Millionen Russen.“

Kritik am Parteienstaat

1992 übte Weizsäcker Kritik am Parteienstaat. Dieser sei nach seiner Überzeugung von Machtversessenheit und Machtvergessenheit „zugleich geprägt, nämlich machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgabe“. Er selbst befand sich in einer anderen Sphäre. Nach dem Ende seiner Amtszeit ließ er – im Gegensatz zu anderen Präsidenten – seine Parteimitgliedschaft weiterhin ruhen. Verübelt hat ihm das vor allem Kohl, der sich auch enttäuscht zeigte, dass der Altbundespräsident, der ihm viel zu verdanken hatte, in der sogenannten Spendenaffäre explizit auf Distanz ging. Richard von Weizsäcker ist am 31. Januar 2015 in Berlin gestorben.